Die Affäre rund um die Vorwürfe der Vergewaltigung und des sexuellen Missbrauchs gegen den Schweizer Islamwissenschafter Tariq Ramadan zieht in Frankreich immer weitere Kreise.

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Wird die Affäre aufgebauscht, weil sie einen umstrittenen Islamforscher trifft? Oder wird selbiger im Gegenteil geschont, weil er sich der muslimischen Sache verschrieben hat? Tatsache ist, dass sich diese Woche eine zweite Frau mit einer Vergewaltigungsklage gegen Tariq Ramadan gemeldet hat. Die zum Islam übergetretene Französin schilderte im TV, wie Ramadan sie 2009 zu einer theologischen Diskussion in sein Hotelzimmer eingeladen, sich dort aber von hinten auf sie gestürzt habe. Über eine Stunde habe er sich an ihr vergangen. "Je mehr ich schrie, desto mehr schlug er zu."

Danach habe Ramadan sie jahrelang verfolgt, um sie von einer Gerichtsklage abzuhalten, so die heute 34-Jährige. Ein Arztbericht habe Blutergüsse und Verletzungen in der Schamgegend festgehalten. Erst jetzt, im Zuge der Weinstein-Affäre und MeToo-Kampagne, fand die Frau den Mut, an die Öffentlichkeit zu treten. Im Oktober hatte schon eine ehemalige Salafistin einen ähnlichen Vorfall geschildert und Klage eingereicht. Die Pariser Staatsanwaltschaft ermittelt in beiden Fällen.

Causa wird politisch

Noch bevor der Rechtsfall aktuell wird, kocht die Affäre politisch hoch: Das Satiremagazin "Charlie Hebdo" zeichnete den Islamtheologen – der alle Vorwürfe bestreitet – auf dem Titelbild mit einer Erektion und der Sprechblase: "Ich bin die sechste Säule des Islam." Dann schob es dem Chefredakteur des Magazins "Mediapart", Edwy Plenel, in einer Karikatur diese Aussage unter: "Ramadan-Affäre: Wir wussten von nichts."

Plenel, Enthüllungsjournalist und Ex-Chef von "Le Monde", konterte mit einem ebenso heftigen Vorwurf: "Charlie Hebdo" sei "islamophob" und liefere den Muslimen zusammen mit der extremen Rechten einen "Krieg". Jetzt mischte sich der ehemalige sozialistische Premierminister Manuel Valls ein: Der Laizist unterstellte Plenel einen "Aufruf zum Mord" – was nach dem Massaker in der "Charlie"-Redaktion 2015 natürlich einen besonderen Klang hatte. Plenel und "Mediapart" betitelte er als "islamogauchistes" (islamfreundliche Linke).

"Mechanik der Drohungen"

Die politischen Wogen gehen mittlerweile so hoch, dass die auslösende Causa Ramadan fast in Vergessenheit gerät. Wie seinerzeit beim Sexskandal von Ex-Währungsfondschefs Dominique Strauß-Kahn dürfte so mancher auf dem Laufenden gewesen sein. So meinte der Ex-Berater des Innenministeriums, Bernard Godard, fast naiv: "Einige Mädchen widerstanden ihm (Ramadan, Anm.). Er konnte gewalttätig und aggressiv werden – das ja. Aber nie habe ich von Vergewaltigungen gehört. Das macht mich sprachlos."

Anders als bei Strauß-Kahn offenbart der Fall Ramadan die Zerrissenheit der Linken in Sachen Islamophobie und Antisemitismus. Nur deshalb wirft "Charlie Hebdo" gerade Plenel vor, er habe auch "Bescheid gewusst". Es stimmt zwar, dass er zur Ramadan-Affäre nicht sofort reagierte; dann aber setzte er die arrivierte Reporterin Marine Turchi auf den Fall an, und sie berichtete ausführlich über die "Mechanik der Kontrolle und der Drohungen", mit denen Ramadan seine weiblichen Opfer zum Schweigen gebracht habe.

Polizeischutz nach Morddrohungen

Jenen Stimmen, die "Charlie Hebdo" vorwerfen, ein "Klima der Konfrontation" zu schüren, entgegnete dessen Mitarbeiterin Zineb El Rhazoui wütend, die "Kollaborateure des islamischen Faschismus" täten besser daran, die wahren Feinde der Freiheit zu bekämpfen. Und aus dem Internet kommt das Echo, die "Denunziantinnen" Ramadans seien "Huren der Zionisten", die "das Blut der Palästinenser" an den Händen hätten. Nach etlichen Morddrohungen stehen jetzt auch die beiden Frauen unter Polizeischutz. (Stefan Brändle aus Paris, 23.11.2017)