Das Machtgefälle zwischen Männern und Frauen herrscht praktisch in allen Branchen. Wohin das führt, haben zuletzt Berichte von Frauen über sexuelle Übergriffe in der Politik, in der Film- und Theaterwelt und im Sport gezeigt.

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Die letzten Wochen waren eine Zäsur. Seit im Oktober erste Vorwürfe gegen Harvey Weinstein laut wurden, wollte es keinen Tag wieder leise werden, oder auch nur leiser. Nie zuvor konnten die strukturell begünstigten bis forcierten sexuellen Übergriffe derart skandalisiert werden, obwohl Zahlen schon länger diese gewaltvolle Dimension der Geschlechterverhältnisse belegen.

Doch es waren eben nur Zahlen, auf die am Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen NGOs, Gewaltschutzeinrichtungen und Feministinnen Jahr für Jahr hinwiesen. Dass jede dritte Frau in der EU körperliche oder sexuelle Gewalt erfährt, ist so eine Zahl. Demnach dürften die schier endlosen Berichte von Frauen aus der Filmbranche, der Politik und jüngst auch aus dem Sport nicht überraschen. Wir hätten es wissen müssen.

Leicht zu ignorieren

Doch anonymisierte Umfragen und Statistiken sind leicht zu ignorieren. Konkrete Menschen mit ihren Erzählungen über unfassbare Zustände machten das nur mehr schwer möglich: Seien es die 1970er-Jahre, von denen kürzlich ehemalige Sportlerinnen im STANDARD berichteten, oder die Gegenwart, von deren Rückständigkeit inzwischen wohl tausende Berichte von sexuellen Übergriffen, Gewalt und Belästigung zeugen.

Das Problem liegt so klar wie selten zuvor auf dem Tisch: Wir leben in liberaldemokratischen Gesellschaften noch immer mit einem Machtgefälle, das Frauen Übergriffen und sexueller Gewalt aussetzt, einem Machtgefälle, das ein derart selbstverständlicher Teil unserer Kultur ist, dass viele Männer nichts dabei finden, die eigne Machtposition auszunutzen, um sich sexuellen Genuss zu verschaffen. Ohne nur das geringste Einverständnis des Gegenübers.

Das "andere Extrem"

Für eine Gesellschaft, die sich als fortschrittlich begreift und die zuletzt vorwiegend dem "arabischen Mann" in selbstgerechter Manier Nachhilfe in Geschlechtergerechtigkeit gab, ist all das eine schallende Ohrfeige. Eine, die wehtut und beschämt. Vielleicht rühren daher die zahllosen Ablenkungsversuche, man möge doch den Flirt retten, oder die ebenso oft geäußerte Sorge in aktuellen Kommentaren und Forenbeiträgen, die Debatte würde zum "anderen Extrem" führen, das etwa in den USA herrsche. Dort könnten Männer ja nicht einmal mehr allein mit einer Frau in den Aufzug steigen, weil diese ihn sogleich der sexuellen Belästigung bezichtigt.

Insbesondere diese Panikfantasie ist irritierend, kamen die zahllosen und oft jahrelang verschwiegenen Schilderungen von sexueller Gewalt zu Beginn doch von genau dort, aus den USA, die EuropäerInnen jetzt so gern als Warnung "vor dem anderen Extrem" bemühen.

Doch diese Versuche des Kleinredens und Ablenkens funktionieren nicht mehr. Vielleicht auch deshalb, weil uns die Betroffenen plötzlich ganz nah sind. So wie die Ex-Skisportlerin Nicola Werdenigg in der "ZiB 2", wo sie von schrecklichen Erfahrungen mit Übergriffen und einer Vergewaltigung zum Zweck eines radikalen Kulturwandels erzählte. Kaum eine Zuseherin, kaum ein Zuseher übersah wohl, welchen Kraftakt Werdenigg mit diesen Veröffentlichungen bewerkstelligte.

Abseits des Sports

Jetzt reden viele Frauen wie Werdenigg, die keine unmittelbaren Sanktionen – sehr wohl aber Anfeindungen – mehr fürchten müssen, oder anonym bleibende Frauen in den sozialen Medien. Doch all jene, die noch in Abhängigkeitsverhältnissen stecken und abseits der derzeit beleuchteten Bereiche in Handel, Gastronomie oder Reinigungsfirmen arbeiten, werden noch immer lediglich durch anonyme Zahlen, Schätzungen und trockene Statistiken repräsentiert. Und die sind leicht zu ignorieren. (Beate Hausbichler, 25.11.2017)