"Wir stellten das Auto ab und gingen hinein in das Weiß. Es war schwer zu glauben, dass ein solcher Ort wirklich existierte."


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In seinem jüngsten Buch White Sands sucht Geoff Dyer auf zahlreichen Fluchten über den Horizont hinaus wie ein Geigerzähler nach der auratischen Ausstrahlung von Sehnsuchtsorten, um diese auf den Wahrheitsgehalt ihres Versprechens abzuklopfen. Seine Reisen sind Pilgerfahrten zu Orten in der äußeren Welt, die womöglich nur in seiner inneren Welt Signifikanz haben.

Dyer, 1958 geborener Working-Class-Spross und globetrottender Slacker, schlägt eine wichtige Brücke zwischen Reiseliteratur und blitzgescheiter Kunst- und Naturbetrachtung in der Nachfolge von Annie Dillard sowie seines intellektuellen Lehrmeisters John Berger. Dabei dreht sich in seinen Werken (But Beautiful: ein Buch über Jazz; Aus schierer Wut: In D. H. Lawrence' Schatten; Paris Trance; Reisen, um nicht anzukommen; Sex in Venedig, Tod in Varanasi u. a.) eigentlich alles um eines: nämlich um Geoff Dyer – eine sehr englische Kunstfigur aus Hyper-Hipster und posttoxisch-depressivem Tintin.

Erwartungsgemäß ist Geoff Dyer immer dann am besten und witzigsten, wenn er seine hohen Ansprüche an ästhetische und natürliche Phänomene schwer enttäuscht sieht und dies mit genussvoll bernhardesker Selbstkasteiung und fassungslosem Gram zur Kenntnis nehmen muss. Dyer: "Meine enorme Kapazität für Enttäuschungen sehe ich als Errungenschaft, als Sieg. Sie ist Beweis dafür, wie viel ich noch von der Welt erwarte." So erwartet er sich im ersten Kapitel, auf einer Reise nach Tahiti, nichts weniger als in ein Gemälde von Paul Gauguin einzutreten. Doch Gauguins Tahiti ist unauffindbar, wie es auch schon zu Gauguins Zeiten unauffindbar war, weshalb der Maler bald auf die abgelegenere Insel Hiva Oa weiterzog.

Scheitern, aber grandios

Schon in seiner ersten Sammlung von Reisegeschichten Reisen, um nicht anzukommen (Argon Verlag, 2003; im Original Yoga For People Who Can't Be Bothered To Do It), quasi der Vorgänger von White Sands, tastet sich Geoff Dyer seelisch waidwund, aber äußerst amüsant an kulturmorphologischen Demarkationslinien der antiken und der modernen Welt entlang. White Sands geizt ebenfalls nicht mit faszinierenden Orten (Smithsons Spiral Jetty in Utah, De Marias Lightning Field in New Mexico, norwegische Nordlichter, ein Flirt in Peking, ein Besuch in Adornos Villa in L.A.) und sein Autor nicht mit den gewohnten Überblendungen ins Philosophische: Abhandlungen über Jazz, Fotografie und Land-Art, um achteinhalb Ecken gedachter Konzeptkunst-Bullshit und Reflexionen über die innere Finsternis zur Mittagshelle des Lebens.

Ein wegweisender Ansatz

Die Echos von Sehnsucht und Resonanzen von Ideen, die er in White Sands sucht, lassen erahnen, dass Geoff Dyer von der Welt überhitzt und überfordert ist und sich nach Abkühlung, Reduktion, ja, nach Auflösung sehnt. Im letzten Kapitel mit dem Titel Beginn wird sogar der Autor selbst beinahe seiner eigenen Auflösung ins Auge sehen müssen. Leider sind die Storys Verbotene Stadt oder Die Ballade von Jimmy Garrison schlichtweg nicht ganz auf der erzählerischen und gefühlsintensiven Höhe der übrigen – wie etwa der Niederschrift der Erfahrung seines tatsächlichen (leichten) Schlaganfalls im Jänner 2014 oder der hochkomischen Titelgeschichte mit Riders-on-the-Storm-Anklängen.

White Sands ist vielleicht nicht Dyers ausgewogenstes Buch, aber auf jeden Fall ein wegweisender Ansatz, wohin sich gewitzte, zeitgenössische Reiseerzählungen im Fahrwasser eines Paul Theroux entwickeln können. Und: eine passende Gelegenheit, um auf Dyers bisherige Bücher aufmerksam zu machen. White Sands endet an der Abbruchkante der westlichen Welt, am Strand von Santa Monica, wo sich ein psychedelischer Sonnenuntergang über dem Pazifik zusammenbraut.

Und letztendlich kommt der Autor zur Erkenntnis, dass es sein eigenes, stets neugieriges Gehirn ist, das mit seinem Wetterleuchten der Assoziationen das eigentliche, von Geistesblitzen umzuckte Lightning Field bildet. Geoff Dyer: "Das Leben ist so interessant, dass ich gern für immer bleiben würde, nur um zu sehen, was passiert, worauf das alles hinausläuft." (Simon Schreyer, Album, 25.11.2017)