Proteinreiche Kresse aus der Arktis: Charlie Alaku zeigt, wie man im hohen Norden lange ohne Fleisch überleben kann.

Foto: Calonego

Frühmorgens im Pingualuit-Nationalpark im Norden der kanadischen Provinz Quebec. Eine leere, unendliche Weite – nichts als Steine, Sümpfe, geduckte Vegetation. Diese großartige Arktislandschaft ist seit Jahrtausenden Heimat der Inuit. Wanderführer Charlie Alaku, der gerade seinen Rucksack geschultert hat, lässt ihn wieder zu Boden sinken. Eine Gruppe von Touristen steht erwartungsvoll bereit. Charlie ist in den Sinn gekommen, dass er ihnen noch etwas zeigen will. Einen "one-foot high kick". Seine Kollegin Maali Tu-kirqi, die wie Charlie zum Parkpersonal gehört, hält den Wanderstock auf der Höhe ihrer Schultern. Charlie nimmt Anlauf, springt hoch, berührt den Stock mit einem Fuß und landet auf dem zweiten. Er springt immer höher.

Die Touristen klatschen. Dem 42-jährigen Inuk geht es freilich nicht darum, seine Fitness zu demonstrieren. Er will Verständnis für die Kultur der Ureinwohner erzeugen. "Solche Spiele sind für die Inuit wichtig", erklärt er, "weil Kraft und Geschicklichkeit für die Jagd unabdingbar sind." Charlie trägt moderne Goretex-Outdoorkleidung samt Stulpen und wasserdichten Wanderstiefeln. Sein liebstes Hobby ist Golf. In seiner Freizeit geht er auch auf die Jagd, vor allem im Winter. Seine Familie ernährt sich wie alle anderen Inuit in der Gegend immer noch vom Fleisch der Robben, Eisbären, Wölfe, Karibus, Schneefüchse, Hasen, Kanadagänse und Belugawale. "Die Tierhaut brauchen wir auch, für unsere Bekleidung", sagt Charlie.

Wahre Schauergeschichten

Am Abend sitzt er mit der Wandergruppe in einer einfachen Hütte mitten in der Tundra. Während das Holzfeuer knistert, erzählt er eine um die andere jener Geschichten, die er schon als Kind gehört hat. Etwa die Sage von der Inuit-Frau, die sich während einer Hungersnot an Menschenfleisch gewöhnte. Als die Inuit nicht mehr hungerten, konnte sie nicht damit aufhören. Sie lockte Menschen in ihr Iglu, tötete und verspeiste sie. "Die anderen haben es schließlich gemerkt und mussten sie umbringen", erzählt er im Plauderton. Als ihn die Gäste fragen, ob das eine wahre Geschichte sei, versichert er: "Aber ja!"

Während sich Charlie den Parkbesuchern widmet, warten seine Frau und seine vier Kinder in Kangiqsujuaq, einem kleinen Inuit-Dorf, etwa eine Dreiviertelflugstunde entfernt. Er bezeichnet sich als "Inuk von Nunavik". Nunavik ist das Inuitterritorium im Norden Quebecs, das mehr als fünfmal so groß wie Österreich ist und vierzehn Dörfer mit rund 11.500 Einwohnern umfasst. Die Inuit-Siedlungen sind für Besucher nur auf dem Luftweg erreichbar. Noch bis in die 1950er-Jahre lebten Inuit in Nunavik in Iglus und Zelten, bevor sie sich in Holzhäusern auf Stelzen niederließen. Die ersten Fernseher erreichten Kangiqsujuaq erst 1982. Heute gibt es dort ein Hotel und einen Golfplatz mit sechs Löchern. Im Sommer nimmt Charlie Alaku an Golfturnieren teil.

Abenteuerlustige

Die drei Nationalparks in Nunavik werden von Inuit verwaltet. Charlie betreut seit drei Jahren Abenteuerlustige im Pingualuit-Nationalpark, der für seinen kreisrunden Kratersee bekannt ist. Vorher arbeitete er acht Jahre lang als Wildhüter für die Regionalbehörden. Charlie kennt die Gegend wie seine Westentasche. Seine Vorfahren zogen schon vor tausenden Jahren als Nomaden auf den Spuren von Karibuherden zu Fuß oder mit Hundeschlitten durch dieses arktische Gebiet.

Von den Karibus findet Charlies Gruppe an diesem Tag nur weiße Haarbüschel auf dem begrasten Boden. Die Gruppe ist auf dem Weg in den Canyon des Puvirnituq-Flusses. Am Wasser kauert sich Charlie zwischen Steinbrocken nieder und pflückt eine kresseartige Pflanze. "Sie enthält viel Protein", erklärt er, "man kann sie essen, wenn das Fleisch ausgeht." In der Tundra wachsen auch winzige, pinke Blümchen, Quarak genannt, "wie der Name meiner Frau", sagt Charlie. Er vermisst die Familie, wenn er im Park arbeitet, vor allem das Baby, Kornana. Aber wenigstens hat er Arbeit, und sie gefällt ihm. In Kangiqsujuaq besitzt er acht Schlittenhunde. Sie bedeuten einen Prestigezuwachs für den Besitzer, denn eigentlich sind sie wegen der Schneemobile nicht mehr nötig.

Wunden der Vergangenheit

Zwischen 1950 und 1970 ließ die Polizei in Quebec unter einem fadenscheinigen Vorwand fast alle Schlittenhunde der Inuit töten. Die Regierung von Quebec räumte ihren Fehler erst viele Jahre später ein. Aber die Wunden schmerzen in Nunavik bis heute.

Manchmal, etwa wenn er sich ärgert, fällt Charlie in seine Muttersprache Inuktitut zurück. Es ist die erste Sprache, die Schüler in Nunavik lernen. Charlie wuchs mit sieben Geschwistern auf. Charlie, der Jüngste, stach heraus. Als Teenager besuchte er zwei Jahre lang eine weiterführende Schule in Montreal.

Die Kinder sind der Stolz der Inuit: Zwei Drittel der Bevölkerung in Nunavik sind unter 25 Jahre alt. Früher wurden sie daheim geboren, verließen ihre Gebiete nicht. Heute fliegen Inuit-Mütter nach Montreal, um ihre Babys in den dortigen Krankenhäusern zu gebären. Die jungen Inuit müssen die Anpassung an eine hochtechnisierte Welt schaffen. Das gelingt nicht allen. Selbstmorde, Alkohol und Drogen finden viele Opfer unter jungen Ureinwohnern. "Natürliche" Gefahren, etwa durch herumstreunende Eisbären, die es hier auch gibt, nehmen dagegen ab.

Pfefferspray und iPhone

Charlie ist, für alle Fälle, immer mit einem Pfefferspray ausgerüstet und bringt seine Gruppe sicher ins Hauptcamp Manarsulik zurück. Dort spricht er per iPhone mit seiner Familie.

Dann brät er Bannock, den althergebrachten Brotfladen. Er zeigt den Touristen, wie man eine Öllampe aus Speckstein ("Qullik") mithilfe von getrocknetem Moos am Brennen hält, wie man es einst in den Iglus und Zelten machte. Charlie gibt den Touristen Kostproben von "Maktak", Walfett. Zusammen mit anderen Parkguides führt er weitere Kraftspiele vor. Am kommenden Tag führt er die Gruppe zu archäologischen Stätten, an denen früher die nomadischen Inuit ihre Zelte im Sommer aufstellten. Es ist ein warmer Tag, ein Fest für blutsaugende Mückenschwärme.

Unverdrossen erzählt Charlie eine weitere Legende seiner Vorfahren: "Es gab gute und schlechte Schamanen, und manchmal stritten sie miteinander." Die Inuit wollten aber nicht, dass es Streit auf Erden gibt. So schickten sie die Schamanen auf den Mond. Dort kämpften diese so heftig weiter, dass sie die Oberfläche aufwühlten. "Deshalb", sagt Charlie, "gibt es Krater auf dem Mond." Wieder, so versichert er, war es eine aus der Zeit gefallene "wahre Geschichte".

Drei Tage später fliegen er und seine Familie nach Montreal zum Ausspannen – mit Golfschlägern im Gepäck. (Bernadette Calonego aus Nunavik, 26.11.2017)