Im Prozess gegen die mutmaßlichen Verantwortlichen der Flüchtlingstragödie auf der A4 im August 2015 hat der als Kopf der Bande angeklagte Afghane L. S. erstmals sein Schweigen gebrochen. Dabei warf er der ungarischen Polizei vor, seinen Komplizen A. S. K. laufen gelassen zu haben, obwohl dieser zunächst zusammen mit L. S. und anderen Verdächtigen in Budapest festgenommen worden war. Das geschah am Abend des 27. August 2015, unmittelbar nach dem Fund des Kühllasters mit den 71 Leichen an der Ostautobahn bei Parndorf. "Alles hätte seine Ordnung, wenn A. S. K. hier säße", sagte L. S. am Donnerstag in der Verhandlung vor dem Gericht in Kecskemét in Südungarn.

In dem Prozess, der seit Juni läuft, werden der Afghane und drei Bulgaren – ein Mitorganisator, der Fahrer des Todes-Lkws und der Fahrer eines Begleitfahrzeugs – des Mordes beschuldigt. Während die anderen Angeklagten in ihren Aussagen ihre Rolle zu verkleinern und die Schuld auf andere abzuwälzen trachteten, äußerte sich L. S. bisher kaum. Erst am Donnerstag ließ er eine pointierte, gefasste Auslassung vom Stapel: "Es ist zu berücksichtigen, was die Polizei getan hat. Warum hat sie A. S. K. laufen lassen, trotz mehrerer Indizien gegen ihn?"

Tatsächlich haben Staatsanwaltschaft und Gericht das Verfahren nachträglich auch auf den Afghanen A. S. K. ausgeweitet. Dieser ist weiterhin flüchtig, gegen ihn wird in Abwesenheit verhandelt. Er soll die Passage der Flüchtlinge von Serbien nach Ungarn über die grüne Grenze organisiert haben, danach übernahm sie L. S., um sie in brutal überfüllten Transportfahrzeugen nach Österreich oder Deutschland bringen zu lassen. Bei der "Beladung" des Todes-Lkws im südungarischen Grenzort Mórahalom soll er ebenso wie L. S. anwesend gewesen sein.

Mysteriöse Umstände der Freilassung

"Zum Zeitpunkt seiner Festnahme lag gegen A. S. K. kein begründeter Verdacht vor", trat Staatsanwalt Gábor Schmidt den Vorwürfen des Hauptangeklagten entgegen. Dennoch bleiben die Umstände der Freilassung mysteriös, wie die zitierten Polizeiprotokolle nahelegen. A. S. K lebte wie L. S. seit 2013 als Flüchtling in Ungarn. In den Verhören während der kurzzeitigen Festnahme bezeichnete er sich als Analphabeten, dem L. S. aus purer Freundschaft in Budapest Unterschlupf gewährte. Auch die 124 Kontakte im Notizbuch seines iPhones, darunter viele serbische, erregten nicht den Argwohn der Vernehmungsbeamten. Ob seine Freilassung einer klassischen Polizeipanne oder einem für ihn segensreichen V-Mann-Verhältnis zur Behörde entsprungen ist, lässt sich freilich nicht klären.

Der Prozess in Kecskemét ging am Freitag in die Winterpause. Bei der Fortsetzung ab 22. Jänner will Richter János Jádi die Mitschnitte der Telefongespräche abspielen lassen, die die Beschuldigten während der Todesfahrt von Parndorf miteinander führten. (Gregor Mayer aus Kecskemét, 24.11.2017)