"Die Suche nach Rendite könnte zu weit gegangen sein", sagte Tobias Adrian, oberster Finanzexperte des IWF, kürzlich.

Illustration: David Mathews

Niedrige Zinsen in der Eurozone: Der Staaten Freud, des Sparers Leid.

Illustration: David Mathews

Sie werden noch einige Zeit niedrig bleiben, die Zinsen, insbesondere in der Eurozone. Der Staaten Freud, des Sparers Leid. Die Regierungen haben sich durch die ultralockere Geldpolitik – neben dem niedrigen Leitzinssatz werden die Renditen auf Anleihen durch Wertpapierkäufe der Europäischen Zentralbank zusätzlich nach unten gedrückt – viel Geld erspart.

Heuer hat die Deutsche Bundesbank eine Berechnung angestellt, wonach die Staatshaushalte der Eurozone seit 2008 um eine Billion Euro entlastet worden sind. Auch Österreich profitiert mit einer Ersparnis von 35 Milliarden Euro massiv von Mario Draghis Regentschaft in der EZB. Anteilsmäßig noch größer sind die Hilfen aus dem Frankfurter Währungstower für Draghis Heimatland Italien, dem die Niedrigzinsen wegen der hohen Schuldenlast stark zugutekommen.

Zehn Prozent der Wirtschaftsleistung weniger für den Schuldendienst musste Rom bezahlen, wenn man die tatsächliche Belastung mit jener bei einem Zinsniveau von 2007 vergleicht.

Schwindende Vermögen und steigende Schulden

Die Zeche zahlen die Anleger, vor allem Sparer, die ihr Vermögen auf dem Konto schwinden sehen. Die Inflation übersteigt die Zinsen schon seit Jahren, weshalb eine schleichende Entwertung der Guthaben stattfindet. Die Verschiebungen sind gewaltig.

Wie die DZ-Bank errechnet hat, sind allein deutschen Sparern seit 2010 mehr als 400 Milliarden Euro entgangen. Auf die deutsche Bevölkerung umgelegt entspricht das einer Entwertung von gut 5.000 Euro pro Bundesbürger. Selbst wenn man die Entlastung durch die niedrigen Kreditzinsen abzieht – was wegen der unterschiedlichen Betroffenheit nur bedingt aussagefähig ist – bleibt ein Schaden von 250 Milliarden Euro.

Man sollte meinen, dass die lockere Geldpolitik Spuren in den Staatshaushalten hinterlassen hätte. Hat sie aber nicht. Die Schulden der Regierungen steigen unentwegt. Auch relativ zur Wirtschaftsleistung standen die Staaten in der Vergangenheit noch nie so hoch in der Kreide. Global liegt die Verschuldung der Regierungen bei 90 Prozent der internationalen Wertschöpfung.

Doch einige Schwergewichte wie die USA, Japan und eben Italien weisen weit höhere Werte auf. Dazu kommen noch die Schulden privater Haushalte und jene von Unternehmen. Der Weltverband der Banken (Institute of International Finance, IIF) hat errechnet, dass die globale Verschuldung bei 200 Billionen Euro liegt. Das entspricht 325 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung. Nur zur Sicherheit: Eine Billion bedeutet 1.000 Milliarden und hat zwölf Nullen.

Grossteils verpufft

Trotz niedriger Zinsbelastung sind also weder Unternehmen noch Haushalte noch Staaten in der Lage, ihren Schuldenberg abzubauen. Offenbar geht ohne das Schmiermittel Pump nichts. Während der Finanzkrise wurde der Anstieg der Verbindlichkeiten des öffentlichen Sektors mit Bankenrettungen und Konjunkturpaketen erklärt. Doch seither sind die Schulden einfach weiter gestiegen.

In China wiederum sorgen die Außenstände der (meist staatsnahen) Unternehmen dafür, dass sich die Gesamtverschuldung des Landes in zehn Jahren verdoppelt hat. Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat im Oktober allein die Schulden der größten 20 Industrie- und Schwellenländer mit 135 Billionen Dollar angegeben. Vor Ausbruch der Finanzkrise waren es noch 80 Billionen.

Dass die Verschuldung über kurz oder lang zum Problem werden wird, liegt auf der Hand, zumal in den letzten Jahren wegen niedriger Renditen immer riskantere Fremdfinanzierungsformen en vogue geworden sind. Hier würden Schocks oder einfach nur das Ende des Konjunkturzyklus zu massivem Rumpeln im Finanzgebälk der Welt führen. Die Flutung der Märkte hat gewaltige Risiken entstehen lassen: "Die Suche nach Rendite könnte zu weit gegangen sein", sagte Tobias Adrian, oberster Finanzexperte des IWF, kürzlich.

Financial Repression

Viel lässt darauf schließen, dass die Sparer weiter zur Kasse gebeten werden, um die Staatsschulden auf tragfähige Niveaus zu bringen. Die Erfahrung lehrt, dass derartige Perioden lang anhalten können. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde beispielsweise wie heute versucht, die Staatsfinanzen über negative Realzinsen zu entlasten.

Bereits 1973 prägten Edward Shaw und Ronald McKinnon den Ausdruck der Financial Repression, mit der die Staatsschulden umverteilt werden. Meist mittels einer Kombination aus Inflation und mehr oder weniger sanftem Druck werden Sparer geschröpft. Lange in Vergessenheit geraten, brachte die US-Ökonomin Carmen Reinhart den Begriff 2011 wieder in Umlauf.

Das Konzept steht auf mehreren Beinen: Durch niedrige Zinsen wird die Inflation angefacht und die Kosten der Refinanzierung werden gesenkt. Dadurch kommt es zu einer Entwertung der Schulden. Gleichzeitig werden Anleger – Fonds, Versicherungen, Banken und private Sparer – durch Regulierung in Staatsanleihen gedrängt. So sichern sich die Regierungen einen stetigen Zugriff auf billiges Geld.

Untertreibung

Wie gut das System funktionieren kann, zeigen vor allem die Erfahrungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Schuldenstände der Industriestaaten hatten damals ähnliche Niveaus erreicht wie heute. In den USA beispielsweise stieg die Inflation nach Kriegsende auf annähernd 20 Prozent, während zehnjährige Staatsanleihen bei rund zwei Prozent grundelten.

In anderen Staaten war die Entwicklung ähnlich. Besonders eindrucksvoll verlief der Schuldenabbau auf Basis dieser finanziellen Repression in Großbritannien. Im Laufe von zehn Jahren wurden die Verbindlichkeiten von 216 auf 138 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zurückgefahren. In den USA verlief die Entschuldung ähnlich markant – dort schrumpfte sie im Nachkriegsjahrzent von 114 auf 65 Prozent des BIP.

Die Zahlen stellen freilich eine Untertreibung der Situation dar, wären Schulden doch ohne Strafsteuer auf Sparer deutlich in die Höhe geschossen. Die Schweizer Versicherung Swiss Re kam in einer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass die US-Schuldenquote ohne finanzielle Repression auf 144 Prozent angestiegen wäre.

Angenehme Variante

In Europa können die Staaten nicht genug von der Droge bekommen. Das ist nicht überraschend. Würde man auf das Anzapfen der Ersparnisse und Anleihen-Investments verzichten, müssten die Regierungen die Bevölkerung mit Maßnahmen konfrontieren, die weniger unbemerkt blieben.

Steuererhöhungen, Sparpakete, möglicherweise gar Vermögensschnitte wie sie in Zypern durchgezogen wurden. So lässt sich Otto Normalverbraucher ausquetschen, ohne dass er die Tragweite des Angriffs auf sein Vermögen nachvollziehen kann. Eine für Politiker durchaus angenehme Variante der Konsolidierung.

Allerdings lässt sich schwer abschätzen, ob die Maßnahmen auch zum gesteckten Ziel einer Absenkung der Verschuldung führen. Derzeit hat es ja nicht den Anschein, wie die erwähnten IWF- und IIF-Zahlen zeigen. Die Schulden steigen unentwegt. Die USA beispielsweise haben erst heuer die Marke von 20 Billionen Dollar geknackt. Rund zwei Billionen kostet überdies die von Präsident Donald Trump geplante Steuerentlastung. Bei einer Verschuldung von mehr als 100 Prozent des BIP sorgt das Unterfangen bei vielen für Stirnrunzeln.

Doch auch im privaten Sektor droht sich eine gefährliche Blase zu bilden, die frappant an den Ausbruch der Finanzkrise 2007 erinnert. Die Kredite an Haushalte haben heuer mit 12,7 Billionen Dollar die Spitzenwerte von vor neun Jahren erreicht. Neben der in den USA immer schon kräftigen Verschuldung für den Immobilienerwerb haben auch anderen Pumpformen Hochkonjunktur: Studenten- und Autokredite, Ratenzahlungen für Einrichtungen, hohe Ausleihungen über Kreditkarten. Die durchschnittliche Verschuldung bei Mastercard, Visa und Co liegt mittlerweile bei fast 8.000 Dollar pro Person und damit mehr als 50 Prozent über dem Wert von vor zehn Jahren.

Jagd nach höheren Renditen

Während die finanzielle Repression nach dem Zweiten Weltkrieg tatsächlich zu einer Reduktion der Staatsschulden führte, taugt sie seit dem Ausbruch der Finanzkrise bestenfalls zu deren Stabilisierung.

Das hängt einerseits mit den niedrigeren Wachstumsraten zusammen. Andererseits kann man in einer globalisierten Welt die Investoren nicht so leicht zum Kauf von Staatsanleihen zwingen, wenn diese zu wenig abwerfen. Das funktioniert zwar blendend bei vielen Pensionsfonds, Lebensversicherungen und individuellen Anlegern, die zum Kauf von Staatsanleihen mehr oder weniger verpflichtet sind, aber nur teilweise bei anderen Playern.

Sie jagen anderweitig nach höheren Renditen, beispielsweise in Schwellenländern, in denen die Zinsen höher sind. Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) – sie wird gern als Bank der Notenbanken bezeichnet – hat in ihrem Jahresbericht recht spektakuläre Zahlen für die globale Expansion des Dollars aufbereitet.

So hat die Geldschwemme der US-Notenbank Fed dazu geführt, dass die Dollarkredite im Ausland von 2009 bis 2016 um 50 Prozent auf 10,5 Billionen Dollar gesprungen sind. In den Schwellenländern explodierte die Verschuldung in US-Fremdwährung gar um 200 Prozent auf 3,6 Billionen Dollar.

Drahtseilakt

Ob US-Autokredite oder Investments in Schwellenländern: Die hohen Kreditniveaus können rasch für Nervosität sorgen. Da reichen manchmal schon Wortmeldungen, um Schocks auszulösen, wie das Beispiels Ben Bernanke zeigte. Der damalige US-Notenbankchef hatte im Mai 2013 mit der vorsichtigen Ankündigung, die Wertpapierkäufe der Fed eines Tages zurückfahren zu wollen, für eine Flucht der Anleger aus den Schwellenländern gesorgt. Der Exodus ließ mehrere Währungen, beispielsweise die indonesische Rupie, taumeln. Auch die Renditen von US-Staatsanleihen schossen in die Höhe.

Das zeigt schon, welch Drahtseilakt die Rückführung der expansiven Geldpolitik der Notenbanken darstellt, die mit ihrem Zinshebel die Schuldenblase jederzeit zum Platzen bringen können. Der Ausgangspunkt ist wegen der aufgeblähten Bilanzen äußerst schlecht: Auf 15 Billionen Dollar sitzen die größten Zentralbanken laut IWF-Daten.

Neun Billionen davon haben sie in Staatsanleihen gepumpt und damit die Zinslast der Regierungen deutlich nach unten gedrückt. Die größten Zentralbanken haben so mit gedrucktem Geld ein Fünftel der Staatsschulden auf ihre Bücher genommen.

Der ohnedies kraftlose Aufschwung wurde somit teuer erkauft – und könnte schon bald vorüber sein. Die US-Wirtschaft steht kurz davor, die zweitlängste Wachstumsphase in der Nachkriegszeit erreicht zu haben. Doch jeder Zyklus geht einmal zu Ende.

Dank billigen Geldes stiegen Aktien- und Immobilienpreise massiv, womit neben der Schuldenblase weitere Bubbles zu platzen drohen. Dazu kommt, dass die Zinsnot viele Anleger in extrem riskante Assetklassen drängte, deren Solidität fraglich ist.

Wie die Notenbanken und Finanzmärkte reagieren werden, ist pure Spekulation. Fakt ist hingegen die Ausgangslage: Von derart hohen Vermögenspreisen ausgehend gibt es viel Spielraum nach unten. Und: Die Notenbanken haben im Falle eines Crashs ihr Pulver längst verschossen. (Andreas Schnauder, 27.12.2017)