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Premier Leo Varadkar droht mit Veto, ist aber selbst unter Druck.

Foto: Reuters/Kilcoyne

Wie anderswo in Europa ist auch in Irland der Einfluss der katholischen Kirche zuletzt stark zurückgegangen. Wenn sich aber der Dubliner Erzbischof Diarmuid Martin – in der Debatte um die Sexverbrechen irischer Priester eher im Lager der Aufklärer – zu Wort meldet, hört die Nation noch immer zu. Das Interesse des Landes komme an erster Stelle, schrieb der Geistliche am Sonntag den Politikern ins Stammbuch: "Die Streiterei hilft niemandem."

Wahrscheinlich hat der 72-Jährige damit seinen Landsleuten aus dem Herzen gesprochen. Zu Wochenbeginn wirkt Irland, als halte es kollektiv die Luft an: Stürzt die bisher durchaus stabil wirkende Minderheitsregierung von Premier Leo Varadkar wirklich über eine längst bekannte Polizeiaffäre? Die Regierungskrise kommt zum schlechtestmöglichen Zeitpunkt. In den Brexit-Verhandlungen zwischen Großbritannien und der EU hat die Frage der zukünftigen Grenze zwischen der britischen Provinz Nordirland und der Republik im Süden der Grünen Insel zuletzt immer größere Bedeutung erhalten.

Die Zeit des größten irischen Einflusses

Das Thema, so lautet Brüssels Forderung, müsse von London ebenso zufriedenstellend beantwortet werden wie Großbritanniens Finanzverpflichtungen und die zukünftigen Rechte der EU-Bürger. Erst dann könne über andere Probleme gesprochen werden.

Erst am Freitag hat EU-Ratspräsident Donald Tusk Premierministerin Theresa May aufgefordert, binnen zehn Tagen einen Lösungsvorschlag zu machen. Um den Druck auf London zu erhöhen, drohte Varadkar sogar mit dem Veto gegen die Fortsetzung der Verhandlungen. Tatsächlich hat Irland im Vorfeld des EU-Gipfels Mitte Dezember den größtmöglichen Einfluss. Haben sich Brüssel und London erst einmal auf die Ausweitung der Verhandlungen geeinigt, werden Dublins Vorstellungen weniger zählen.

Causa Fitzgerald

Varadkar müsste sich also auf das Lobbying konzentrieren. Stattdessen streifen er und sein Team womöglich schon morgen, Dienstag, als Wahlkämpfer durchs Land. Für diesen Tag hat die nationalliberale Partei Fianna Fáil (FF), die bisher die Minderheitsregierung stützte, einen Misstrauensantrag gegen Frances Fitzgerald eingebracht: Die Wirtschaftsministerin soll in ihrer Zeit im Innenressort 2015 ignoriert haben, dass hohe Polizeiführer einen Whistleblower diskreditieren wollten, anstatt seinen Vorwürfen nachzugehen.

Neue Enthüllungen haben Fitzgerald zuletzt schlecht aussehen lassen. Der Komplex wird aber längst von einem Parlaments ausschuss untersucht und wäre eigentlich als Anlass für eine Neuwahl zu geringfügig. Doch FF sorgt sich um die Konkurrenz der links-nationalistischen Sinn Féin, die ihrerseits Fitzgerald das Misstrauen aussprechen will.

Er werde seine Ministerin nicht opfern, gibt sich Varadkar entschlossen. Zweimal hat er sich am Wochenende mit FF-Chef Micheál Martin getroffen. Vielleicht gelingt noch ein Kompromiss, zumal auch die Unabhängigen eine Wahl im Advent ablehnen. 2018 allerdings, damit rechnen die meisten Beobachter der Dubliner Verhältnisse, werden die Iren zur Urne schreiten müssen – allen Mahnungen des Erzbischofs zum Trotz. (Sebastian Borger aus London, 26.11.2017)