Das Covermotiv von "Relatives In Descent" der Band Protomartyr aus Detroit.


Foto: Domino Recording Company

Wien – Josef Stalin als Thema ist in der populären Musik schon länger nicht aufgetaucht. Die letzten beiden bekannten Beispiele liegen ein halbes Menschenleben zurück. Scott Walkers The Old Man's Back Again fällt einem da ein sowie Robert Wyatts 1980 veröffentlichte Coverversion einer alten US-Lobpreisung Stalins und seines Widerstands gegen Hitler von 1943 – damals bekanntgemacht von der Vokalgruppe Golden Gate Quartet: Stalin Wasn't Stallin'.

Bei Joe Casey und seinem Song A Private Understanding erscheint Josef Stalin dem in einem Campingmobil durch die Lande reisenden Elvis Presley als Konterfei in einer Wolkenbank. Der Wind verändert das Stalin-Bild in einen gütig lächelnden Gott, was Elvis menschlich ungemein berührt. Es entmutigt ihn aber auch. Zeitlebens wird er dieses Gefühl nicht adäquat beschreiben können. Einsam und unglücklich wird er am 16. August 1977 in seinem Badezimmer in Graceland sterben.

protomartyr

Während also im Hintergrund seine aus Detroit kommende Band Protomartyr sich in einem den Magen verbitternden Postpunksong ungefähr in der Mitte zwischen Killing Joke, Joy Division und The Fall festbeißt, erklärt Joe Casey auf dem Album Relatives In Descent im Duktus eines langsam warmlaufenden und in den Saft gehenden Wirtshausphilosophen jene frustrierende wie absurde Situation, die dem vorsokratischen Philosophen Heraklit von Ephesos ("der Dunkle") am Ufer eines Flusses widerfährt. Der Fluss will trotz der Behauptung vom ewigen Werden und Wandel (siehe Wind und Wolken) nicht und nicht den Bach hinuntergehen. Er bewegt sich keinen Millimeter. Später wird daraus der Spruch "panta rhei / alles fließt" werden, aber Heraklit dachte noch nicht in griffigen Popparolen.

Giftwolken und Double Shots

Inzwischen ist Joe Casey nach einigen Filterzigaretten und Double Shots weitergejapst. Er erzählt von seiner Thekenkanzel aus von Giftwolken und kontaminiertem Erdreich und einem Telefongespräch mit einem Direktvermarkter namens "Lazlo", weit drüben in einer anderen Stadt namens Bangalore oder Mahabalipuram oder so: "It meant a lot to me then, it matters less to me now. All calls are answered. It's no bother, I just wanted to talk. He tried to sell me on a credit card. I asked about the weather and whether his life was hard."

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Die Gitarre grätscht sich giftig und nach allen Seiten Stiche austeilend durch das gesamte Album. Relatives In Descent ist das vierte Album von Protomartyr in fünf Jahren. Dazu kommen ständige nervenaufreibende Tourneen durch nicht besonders große Clubs und Übernachtungen in bescheidenen Hotels. Für große Bühnen sind der lyrische Sermon Caseys und die Schrapnellgitarre des musikalischen Direktors Greg Ahee viel zu fordernd angelegt. Man kann also ruhigen Gewissens behaupten, dass die Band um den Humana-Anzüge tragenden Vierziger Casey und seine um zehn Jahre jüngeren Slackerfreunde auch mit diesem Album nicht dazu geeignet ist, einmal im Vorprogramm von U2 aufzutreten.

Neben extremer Textlastigkeit und dem in Folge auch gegen den Trump-Tower in New York vorrückenden, für das Heute adaptierten Sound der späten 1970er-Jahre überzeugt die Band immer wieder mit wilden Geschichten.

In Half Sister hören wir etwa von einem Pferd in Nordmichigan, das von einem Blitz getroffen wird und in einer unbekannten Sprache zu sprechen beginnt. Die Übersetzung ergibt den Satz: "Der Mensch ist nicht gut." Das Pferd wird erschossen und ausgestopft. Es soll Kinder dazu anregen, immer ihr Bestes zu geben. (Christian Schachinger, 28.11.2017)