Göttingen – In welchem Ausmaß Stress in der Schwangerschaft den ungeborenen Nachwuchs bei Säugetieren beeinflusst, ist trotz zahlreicher Studien zu dieser Frage nach wie vor unklar. In einigen Untersuchungen führte der Stress zu einer schnelleren Entwicklung, in anderen wuchs der Fötus langsamer heran, oft hatte er auch gar keine Auswirkungen. Ein internationales Forscherteam konnte nun im Rahmen einer Metaanalyse Ordnung in die verwirrenden Ergebnisse bringen. Es zeigte sich, dass der Einfluss von mütterlichem Stress auf die Entwicklung der Nachkommen davon abhängt, ob die Mutter im frühen oder späten Stadium der Schwangerschaft Stress erfahren hat.

Das Forscherteam um Julia Ostner und Oliver Schülke vom Deutschen Primatenzentrum – Leibniz-Institut für Primatenforschung (DPZ) hat 719 Studien an 21 verschiedenen Säugetierarten verglichen, bei denen es um die Auswirkungen von vorgeburtlichem Stress auf die Größe und das Wachstum der Nachkommen ging. Stress kann bei einer werdenden Mutter beispielsweise durch Nahrungsknappheit oder soziale Belastungen ausgelöst werden.

Geringere Lebenserwartung bei spätem Stress

Ist eine Mutter nur gegen Ende der Schwangerschaft gestresst, investiert sie weniger Energie in den Nachwuchs. Ungeborene und Säuglinge zeigen in solchen Fällen ein langsameres Wachstum als Kinder nicht gestresster Mütter. Vorgeburtlicher Stress kann dann zu einer geringeren Lebenserwartung der Nachkommen führen.

Mit zunehmender Unabhängigkeit von der Mutter nehmen die Effekte des mütterlichen Stresses auf den Nachwuchs jedoch ab und die Kinder wachsen genauso schnell wie ihre nicht benachteiligten Artgenossen. "Stress in der späten Schwangerschaft führt also vorübergehend zu einem langsameren Wachstum des Nachwuchses. Wenn die Jungtiere unabhängig von der Mutter werden, wachsen sie jedoch normal", sagt Andreas Berghänel.

Früh in der Schwangerschaft einsetzender Stress hat ganz andere Auswirkungen auf den Nachwuchs. Um ihre schlechte Ausgangssituation zu kompensieren und die Chancen auf eigene Nachkommen zu erhöhen, wachsen diese Kinder schneller und werden damit auch früher geschlechtsreif. "Das Ungeborene wird im Mutterleib umprogrammiert, es beschleunigt seinen Lebenszyklus, um seine geringere Lebenserwartung zu kompensieren", erklärt Andreas Berghänel, Erstautor der im Fachjournal "PNAS" erschienenen Studie. Einmal auf der Überholspur, wachsen diese Kinder auch nach der Entwöhnung von der Mutter schneller als ihre weniger benachteiligten Artgenossen.

Antworten auf viele Fragen

Im Laufe der Entwicklung überlagern sich also verschiedene Effekte: Ein vorübergehend langsameres Wachstum aufgrund geringerer Versorgung seitens der Mutter und eine schnellere Entwicklung, um eine niedrigere Lebenserwartung zu kompensieren. Ob eine "Umprogrammierung" stattgefunden hat, kann man also erst nach der Entwöhnung der Jungen von der Mutter feststellen.

Diese neuen Ergebnisse könnten auch helfen, den Entwicklungsprozess beim Menschen besser zu verstehen, meinen die Forscher. Beispielsweise könnte die Untersuchung klären helfen, warum Mädchen, die in ärmeren Gegenden aufwachsen, früher geschlechtsreif werden, und warum Teenager-Schwangerschaften häufiger in benachteiligten Familien auftreten. Es könnte aber auch die Frage beantworten, warum Stillen im Babyalter das spätere Risiko für Übergewicht und Stoffwechselstörungen verringern kann. (red, 8.12.2017)