Wer Zeit mit den Elenden in Signas Obdachlosenheim verbringt, macht mit bei einem Theater, das Leiden teilt: "Das halbe Leid".

Foto: Erich Goldmann

Eine Nacht unter Leidenden zu verbringen, das bietet der Hamburger Verein Das halbe Leid an, einen Kurs für Solidarität und Mitgefühl von 19 bis 7 Uhr früh. Buchen kann man ihn über das Schauspielhaus Hamburg. Die weiten Hallen einer stillgelegten Maschinenfabrik in Hamburg-Barbeck wurden dafür zum Obdachlosenheim umgestaltet. Verantwortet vom dänisch-österreichischen Theaterkollektiv Signa.

"Furcht und Mitleid zu erregen" sei der Zweck des Theaters, so meinte schon Gotthold E. Lessing. Mitleid im Theater – so verstand der damalige Dramaturg des Hamburger Nationaltheaters seinen Aristoteles – sei "geteiltes Leid", und zwar mit den vom Schicksal aus der Bahn Geworfenen. Man greift nicht zu weit, wenn man die neue Signa-Arbeit in diesen Zusammenhang stellt.

Nach kurzer Einführung wird jedem Kursteilnehmer ein "Leidender" zugewiesen, der als Mentor durch die Nacht führt und für den man Empathie empfinden soll: "Ich ekle mich nicht vor dir!", "Ich nehme teil an deinem Leid!", "Ich versuche nicht, dein Leid wegzunehmen!". Mein Mentor ist Keller-Reini II, ein Alkoholiker mit Rollator und Atemgerät. Ob er wirklich so heißt, ob er, zuvor ein einflussreicher oberösterreichischer Industrieller, nach einem gesellschaftlichen Totalabsturz seine Identität gewechselt hat, hat sich in seinem Bewusstsein schon vollkommen verflüchtigt.

Eindrucksvoller Trash

Um sich nicht von den Leidenden zu unterscheiden, müssen sich alle Kursteilnehmer umziehen. Keller-Reini II hat unter seinem Bett Anziehsachen parat: Jeans, die ich mir mit einer Schnur zubinden kann, schmutzig weiße Ärzteclogs und für die Nacht eine lange Unterhose. Im mir zugewiesenen Stockbett auch eine Plastikschüssel, mit der hole ich die Kohlsuppe. Keller-Reini hat zwar Panikanfälle, aber zum Glück speit er nicht wie Alina aus Osteuropa oder läuft grausig zerzaust wie Schimmelpeter durch die Halle. Weiters gibt es Bastel- und Vortragsräume, Kantine, Fernsehzimmer, Fitnessstudio: eine beeindruckende Trash-Installation.

Von oben herab, sich in sentimentaler Distanz gerührt über die Ach-so-Armen zu stellen, diese Haltung verweigert das Signa-Theater konsequent, seine Mitleidübungen sind radikal. Den Leidenden kann man nicht entkommen, auch nicht in Kursphase zwei, wenn um ein Uhr Nachtruhe im Schlafsaal herrschen sollte. Dann hört man nicht nur Schreie, Leute, die geschlagen werden, plötzlich gibt es in Nebenräumen nächtliche politische Vorträge, dann wieder beschwichtigende Gutenachtgeschichten, die man nicht versäumen will. Die Leidenden fürchten sich aber vor allem vor Dolores, einer mächtigen geheimnisvollen Frau. Oder ist Dolores nur der tiefe Schmerz, der sie immer wieder heimsucht?

Elend mit Vergnügen

Und doch, es ist nicht zu leugnen, bereitet die Nacht des Elends komödiantisches Vergnügen: das Verwildern und Herausfallen aus der Mitte der Gesellschaft! Nicht nur an Gorkis Nachtasyl muss man denken, auch Puccinis zugiger La Bohème-Dachboden ist gar nicht so fern. Der Stricher und Drogenjunkie Blondi zum Beispiel ist ein Dichter. In einem der angebotenen Schreibkursworkshops trägt er seine Gedichte vor. Wie theatralisch, wenn Lori immer leicht beleidigt ihre Runden durch die Halle macht oder Pamela sich von ihrer Babypuppe nicht trennen kann! Wie präzise allein die tänzerischen Bewegungen, wenn Keller-Reini auf einmal ohne Rollator sich vom Boden zu erheben versucht.

Um halb sechs: Wecken, Frühstück, Nachbesprechung! Mitleiden auf Zeit: Wir "Kursisten" können nun wieder zurück in die Gesellschaft. Das Theaterkollektiv Signa allerdings erst Mitte Januar, so lange wird es fast Nacht für Nacht den Schlafsaal mit Empathiesüchtigen teilen. (Bernhard Doppler aus Hamburg, 29.11.2017)