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Zeugen von Cybermobbing halten nicht selten einfach nur still – auch um nicht selbst Opfer von Häme zu werden.

Illustr.: Getty Images

Wien – Mit den neuen Medien haben sich längst auch neue Formen von Gewalt entwickelt. Dabei besteht eine Bandbreite, in der die Täter oft sehr zügellos agieren: von rassistischen Beschimpfungen über die Erstellung diffamierender Fakeprofile bis zu Erpressung und Todesdrohungen. Sexuelle Übergriffe mit pornografischen Inhalten treten genauso auf wie Schockvideos, die versendet werden. Die Opfer sind meist jugendlich.

Eine zusätzliche Belastung für sie: Die von anonymen Usern ausgesprochenen Demütigungen und Drohungen sind öffentlich vor einem unkontrollierten Beobachterkreis. "Diese unbeteiligten Zeugen verfügen allerdings auch über ein hohes Interventionspotenzial, könnten dieser Gewalt also wirksam entgegentreten", sind Christiane Atzmüller und Ulrike Zartler vom Institut für Soziologie der Universität Wien überzeugt. Im Projekt "Zivilcourage 2.0" beschäftigen sich die beiden Forscherinnen mit den sogenannten Online-Bystandern. Gemeinsam mit Ingrid Kromer von der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/Krems untersuchen sie, welche Faktoren und Mechanismen online die Zivilcourage von Jugendlichen fördern und welche sie hemmen. Auf diesen Erkenntnissen aufbauend soll ein jugendgerechtes Interventionsrepertoire sowie ein entsprechendes Informations-, Schulungs- und Trainingsangebot ausgearbeitet werden.

Stillhalten und durchtauchen

Wie es gegenwärtig mit der Online-Zivilcourage von Jugendlichen aussieht, haben die Forscherinnen bereits in 19 Gruppendiskussionen mit 14- bis 18-Jährigen und durch Experteninterviews mit Schulpsychologen, Sozialarbeitern und Mitarbeitern von Beratungseinrichtungen ermittelt. Ernüchterndes Fazit: Grundsätzlich gilt das "Prinzip Stillhalten" – wer Zeuge von digitaler Gewalt wird, mischt sich nicht ein.

"Interventionen gibt es meist nur dann, wenn man mit dem Opfer befreundet ist", weiß Christiane Atzmüller. Darüber, ob man auch unbekannten Opfern helfen kann und vor allem soll, herrscht bei den Jugendlichen große Unsicherheit: So wisse man einerseits nicht, wie sich die Sache entwickelt habe und wie viel Schuld das Opfer selber trage. Andererseits, so die verbreitete Sorge der Jugendlichen, könnte man durch ein klares Auftreten gegen die Gewalt das Opfer noch mehr schädigen, indem man es damit als schwach darstellt.

Außerdem herrscht die Meinung vor, dass Interventionen im Netz im Gegensatz zum Einschreiten im realen Leben keinen emotionalen Gewinn bringen. Viele Beobachter solcher Vorfälle sind der Überzeugung, dass die Opfer selbst aktiv werden müssen, indem sie die entsprechenden Einträge blockieren oder ein öffentliches Profil mit nur einem Klick auf "privat" umstellen. Als Opfer öffentlich um Unterstützung zu bitten oder gar um Beendigung der Übergriffe gilt unter Jugendlichen als absolutes No-Go: Damit mache man sich nur lächerlich und löse nur ungezügelte Häme aus.

Die übliche Reaktion auf Cybermobbing und Co ist also das große Schweigen im Netz. "Nur nicht öffentlich machen, dass es einem schlecht geht", lautet der Tenor, "der Terror wird schon von selbst aufhören, wenn die Täter keine Aufmerksamkeit bekommen." Das Problem dabei: "Diese verbreitete Haltung fördert eine Kultur, die Übergriffen im Internet nichts entgegenhält, sie nicht als inakzeptabel kennzeichnet", sagt Projektleiterin Ulrike Zartler. Als man die Jugendlichen im Rahmen der Diskussionen mit dem Konzept der unterlassenen Hilfeleistung und der daraus resultierenden Schuldfrage konfrontierte, kam es oft zu bemerkenswerten Einsichten. Allgemeiner Tenor laut der Forscherin: "Boah, da wären wir uroft schuldig!"

Eine kritische Stimmung

Was also kann man tun, um derartigen Auswüchsen im Netz zu begegnen? "Wir brauchen klare Regeln und Strukturen, die vorgeben, was akzeptabel ist und was nicht mehr toleriert werden kann", sagt Christiane Atzmüller. Wenn in der Schule Regelverstöße passieren, geht man zum Vertrauenslehrer. Im Netz gibt es derartige Strukturen nicht, die angebotenen Meldefunktionen werden als wenig wirksam erlebt.

"Ich glaube, dass unter Jugendlichen beliebte Blogger oder andere 'berühmte' Persönlichkeiten mit großer Reichweite ein Potenzial als Ansprechpartner und Vorbild hätten", meint die Soziologin. "So könnte man auch Mut machen zur Gegenrede – wie das aktuell etwa bei 'No Hate-Speech'-Kampagnen versucht wird." Ziel des vom Verkehrsministerium geförderten Projekts "Zivilcourage 2.0" ist es, in der breiten Öffentlichkeit ein Bewusstsein für Internet-Gewalt und eine kritische Stimmung dagegen zu erzeugen. Dazu muss man wissen: Seit 1. Jänner 2016 ist Cybermobbing strafbar. Gebraucht wird dieses Wort laut Bildungsministerium seit 2007. Als Cyberbullying ist das Phänomen schon seit 1999 bekannt.

Mit einer Bewusstseinskampagne soll Jugendlichen zumindest der Schritt vom Stillhalten zum Widerstand nicht mehr ganz so sinnlos, unwägbar oder kontraproduktiv erscheinen. "Man muss den 'Zuschauern' vermitteln, dass sie solche Übergriffe nicht hinnehmen müssen und auch selbst etwas dagegen unternehmen können", sagt Ulrike Zartler.

Auf welche Weise sie das am effektivsten tun, wird gemeinsam mit praxiserprobten Partnern analysiert: Darunter finden sich das Büro für Kriminalprävention und Opferhilfe des Bundeskriminalamts, das Mauthausen-Komitee Österreich mit Zivilcourage-Trainings sowie das Österreichische Institut für angewandte Telekommunikation. Erarbeitet werden entsprechende Trainingskonzepte, Online-Kampagnen und Schulungsangebote. (Doris Griesser, 1.12.2017)