ÖVP-Obmann Sebastian Kurz könnte bereits als neuer Bundeskanzler zum EU-Gipfel am 14. und 15. Dezember nach Brüssel reisen.

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In Österreich sind alle Augen auf die Koalitionsverhandlungen zwischen ÖVP und FPÖ gerichtet. Internationale Beobachter fragen sich vor allem, welche Konsequenzen es nach sich zöge, wenn die kommende österreichische Bundesregierung gemeinsam mit Ungarn und Polen einen rechten "Null-Zuwanderungs"-Block bilden würde. Doch während das Flüchtlings- und Migrationsthema weiterhin einen Großteil der Aufmerksamkeit auf sich zieht, bleibt die eigentlich größte Gefahr für Österreichs Entwicklungsmodell weitgehend ausgeblendet: die Desintegration Europas, befeuert durch krisenanfällige europäische Institutionen und eine spaltende Wirtschaftspolitik.

Auf europäischer Ebene laufen intensive Debatten über die wirtschaftspolitische Ausrichtung und Reformen der EU-Institutionen. Erstens ist eine umfassendere Reform der Institutionen im Euroraum bereits lange ausständig, nachdem die letzten Jahre hauptsächlich der schrittweisen Krisenbekämpfung gewidmet waren. Zweitens haben das Brexit-Votum und die rechtsautoritären Entwicklungen in Polen und Ungarn zusätzliche Dringlichkeit im Hinblick auf die Erzielung eines solidarischeren Institutionengefüges erzeugt.

Entscheidende Zeiten für Österreich und Europa

Emmanuel Macron, Präsident Frankreichs, fordert große Reformen im Euroraum – insbesondere die Errichtung eines Eurozonen-Budgets mitsamt Euro-Finanzminister, um budgetäre Mechanismen des Ausgleichs zwischen den Euromitgliedsländern zu schaffen. Deutschland bleibt bislang zögerlich bis ablehnend. Die deutsche Kanzlerin Merkel macht ihre Unterstützung der institutionellen Reformvorschläge nicht zuletzt davon abhängig, dass Macron zunächst Reformen des französischen Arbeitsmarktes nach dem Vorbild Deutschlands liefern müsse. Die französische Regierung hat jedenfalls bereits (höchst umstrittene) Deregulierungsmaßnahmen wie die Lockerung des Kündigungsschutzes eingeleitet und fordert ein Entgegenkommen der künftigen deutschen Regierung.

Inzwischen hat die Europäische Kommission fünf Szenarien für die Zukunft der EU vorgelegt. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bevorzugt, dass alle EU-Mitgliedsländer "mehr gemeinsam machen", was die Weitergabe von zusätzlichen budget- und sozialpolitischen Kompetenzen an Brüssel erfordern würde. Macron und Merkel haben jedoch signalisiert, dass sie mit der Option leben könnten, dass integrationswillige Mitgliedsländer voranschreiten und blockierende Mitgliedsländer zurückbleiben; das wäre dann ein Europa der zwei Geschwindigkeiten, eine formale Aufspaltung in Zentrum und Peripherie.

Welche Reformen in Europa?

In Europa brummt aktuell der Konjunkturmotor. Das ist erfreulich, darf jedoch nicht den Blick auf die drängenden Probleme verstellen: Insbesondere die südeuropäischen Euroländer weisen weiterhin sehr hohe Arbeitslosigkeit auf. Tausende gut ausgebildete (junge) Menschen haben ihr Land verlassen. Die höheren Wachstumsraten folgen auf zähe Jahre der Krise und werden früher oder später wieder sinken. Die Eurozone ist jedoch institutionell nicht für die nächste große Krise gewappnet: Die Euromitgliedsländer sind weiterhin anfällig für Finanzmarktturbulenzen, weil sie keine gemeinsamen, sicheren Anleihen begeben, was Spekulationen gegen die Staatsanleihen einzelner Länder ermöglicht. Und das Fehlen einer gemeinsamen Budgetpolitik macht es in Krisenzeiten sehr schwierig, eine adäquate Krisenbekämpfung zu ermöglichen, die auch jenen Ländern hilft, in denen die Arbeitslosigkeit besonders stark angestiegen ist.

Die Eurokrise könnte rasch wieder die Schlagzeilen dominieren – vielleicht mit den Wahlen in Italien im kommenden Jahr, bei der die Rechtspopulisten und EU-Kritiker gestärkt werden könnten; oder mit der nächsten Verhandlungsfrist rund um das griechische Krisenprogramm. Österreichs Entwicklungsmodell wäre durch Ansteckungseffekte unmittelbar bedroht: Österreich ist eine kleine, offene und exportkräftige Volkswirtschaft, die in intensiven Handelsbeziehungen mit anderen europäischen Ländern steht. In Zeiten der Globalisierung und internationaler Kapitalströme können zentrale Probleme der Regulierung von Produktions-, Arbeits- und Finanzmärkten nur durch europäische Kooperation effektiv gelöst werden. Desintegration kann damit nicht im österreichischen Interesse liegen.

Österreichs wichtige Rolle

Hierzulande sollte man zur Kenntnis nehmen, dass sich ausländische Beobachter sorgenvoll die Frage stellen, ob sich Österreich zu einer führenden Kraft im EU-Anti-Migrations-Block aufschwingen wird. Die negativen Konsequenzen dieser Außenwahrnehmung sind nicht zu unterschätzen. Wenn sich Österreich in der Debatte rund um die Zukunft der EU mehr an den Visegrád-Staaten als an Paris und Berlin orientiert, droht die Idee eines solidarisch agierenden Europas untergraben zu werden, weil vor allem Ungarn und Polen aktuell nicht gerade zu den Vorreitern im politischen Kampf um wirtschaftlichen und sozialen Lastenausgleich in Europa gezählt werden können.

Die EU ist an einem Scheidepunkt. Zahlreiche Vorschläge zur Reform der Institutionen liegen auf dem Tisch. Die politische Situation in Deutschland, dem politisch und wirtschaftlich stärksten Land Europas, ist jedoch ein Stolperstein auf dem Weg zu einem besser funktionierenden Europa. Unabhängig davon, wie es nach dem Ende der Jamaika-Verhandlungen konkret weitergeht, sollte die zukünftige deutsche Koalitionsregierung anerkennen, dass auch für die südlichen Euroländer eine langfristige Aufholperspektive geschaffen werden muss. Aufholen ist für diese Länder durch "more of the same" in der Wirtschaftspolitik (Fokus auf Budgetkonsolidierung und Arbeitsmarktderegulierung) im bestehenden Institutionengefüge jedoch einfach nicht möglich.

"New Deal" in der Industriepolitik

Ohne eine wirtschaftliche Annäherung der Eurozonenländer wird die Eurozone über kurz oder lang auseinanderbrechen. Wo ein gemeinsames Eurozonen-Budget politisch nicht durchsetzbar erscheint, muss der Fokus auf einer Reform des EU-Budgetregelwerks liegen – mit dem Ziel, das Primat einer demokratisch legitimierten nationalen Budgetpolitik gegenüber jenen kontraproduktiven prozyklischen Defizitvorgaben wiederherzustellen, die in den letzten Jahren das wirtschaftliche Auseinanderdriften in der Eurozone befeuert haben. Ein "New Deal" in der europäischen Industriepolitik sollte durch ein groß angelegtes Investitionsprogramm in den zurückgefallenen Ländern nicht nur das wirtschaftliche Zusammenwachsen der Euroländer fördern, sondern könnte auch direkt den Ausbau von sozialer und ökologischer Infrastruktur adressieren.

Österreich hat eine enge Beziehung zu Deutschland und gilt in Westeuropa als Brücke nach Osteuropa. Zudem wird Österreich im zweiten Halbjahr 2018 die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen. Damit muss die künftige Regierung eine wichtige Rolle in Debatten zur Europapolitik spielen. (Philipp Heimberger, Richard Grieveson, 30.11.2017)