Der dänische Familientherapeut, Autor und STANDARD-Kolumnist Jesper Juul.

Foto: family lab

Diese Serie entsteht in Kooperation mit Family Lab Österreich.

Foto: family lab

Frage

Meine beste Freundin ist Ende 30 und hat einen zehnjährigen Sohn. Er ist ein guter Schüler, gewissenhaft, schon sehr selbstständig, neugierig und interessiert sich für alles Mögliche, auch für Themen, die Kinder sonst eher nicht so spannend finden. Ich finde ihn überdurchschnittlich klug für sein Alter und vergesse aus diesem Grund auch immer, wie jung er eigentlich noch ist.

Seine Mutter ist alleinstehend und arbeitet Vollzeit. Sie war nie mit dem Kindsvater zusammen, aber es besteht ein geregeltes, unproblematisches, trotzdem nicht sehr inniges Verhältnis. Vater und Sohn sehen sich einmal wöchentlich.

Meine Freundin wohnt seit der Geburt ihres Sohnes wieder bei ihren Eltern, die sich von Anfang an sehr viel um ihren Enkelsohn gekümmert haben. Sie bringt ihren Sohn zu diversen Sporttrainings und Freizeitevents und arbeitet dort auch ehrenamtlich mit, hilft ihren Eltern zu Hause. Auf mich macht Sie den Eindruck, dass sie sehr belastbar, sorglos und stressresistent ist. Es scheint ihr irgendwie alles leicht von der Hand zu gehen. Ich empfinde sie insgesamt als einen sehr positiven Menschen.

Abgekühltes Verhältnis

Was mich nun stört, ist, dass ich schon seit langer Zeit nicht mehr allein mit meiner Freundin zusammensitzen und plaudern konnte. Unser Verhältnis ist abgekühlter als früher, was mir leid tut. Das liegt daran, dass wir uns nur an wenigen Wochenenden im Jahr sehen können. Meistens besuche ich sie, aber bei ihr ist immer viel los zu Hause, und wenn mal ausnahmsweise niemand da ist, ist ihr Sohn mit am Tisch oder bleibt zumindest immer in Hörweite. Auch wenn er schon furchtbar müde ist, will er nicht allein schlafen gehen, sondern wartet auf seine Mama.

Ich habe das Gefühl, dass er sehr besitzergreifend ist und seine Mutter kontrolliert. Er liest ihre Whatsapp-Nachrichten oder will wissen, mit wem sie telefoniert, und verbietet ihr abends auszugehen. Bisher habe ich all das eher lustig gefunden, aber mittlerweile finde ich sein Verhalten zunehmend anstrengend und ärgerlich.

Wenn mich die beiden manchmal besuchen, dann ist er auf Schritt und Tritt hinterher und jammert, sodass einem die Lust vergeht und wir Unternehmungen kaum mehr einplanen. In jeden Fahrstuhl, in jeden Raum drängt er sich als Erster hinein, und ich frage mich, ob das einfach ein kindliches Verhalten ist. Am Esstisch ist die Atmosphäre für mich unerträglich. Er isst wie ein Wilder und verdrückt in Windeseile Portionen, die für einen ausgewachsenen Mann zu groß wären. Für mich sieht es immer so aus, als ob er Angst davor hat, zu kurz zu kommen. Über sein Essverhalten macht sich auch meine Freundin Sorgen, denn ihr Sohn ist etwas übergewichtig und sie will ihn nicht ständig damit konfrontieren. Aber kann es nicht sein, dass alles irgendwie zusammenhängt?

Ich will eigentlich nur wieder ein paar Tage oder Abende allein mit meiner besten Freundin, aber ich möchte auch genauso gerne, dass sich ihr Sohn zu einem liebevollen Mann entwickelt und nicht zu einem besitzergreifenden Kontrollfreak. Haben Sie einen Rat für mich?

Antwort

Wenn ich Ihren Brief zwischen den Zeilen lese, so entsteht der Eindruck, dass sie beide sich mit den Bedingungen Ihrer Freundin arrangieren müssen, auch wenn dies unterschiedliche Wege sind.

Sie scheint einen typisch "maskulinen" Zugang zu ihren persönlichen Beziehungen zu haben – und zwar in jenem Sinne, dass diese zweitrangig gegenüber anderen Interessen sind. Sie zählt auf Sie und ihre Eltern, um das Bedürfnis ihres Sohnes nach Nähe zu stillen. Jeder von Ihnen hat einen wunderbaren Job zu erfüllen.

Was jedoch bei Ihrer Freundin passiert, ist, dass sie dieses bestimmte Bedürfnis ihres Sohnes mit anderen Qualitäten ihrer Mutter-Kind-Beziehung ersetzt. Ich habe keine Zweifel daran, dass sie ihr Allerbestes, gemäß ihrer Persönlichkeit, tut. Sie kümmert sich um die für sie wichtigen Menschen. Ihre Freundin ist wertvoll für deren Leben, aber nicht in einer gleichwertigen Art und Weise. Das heißt also, dass ihr Sohn nie das Gefühl bekommt, wertvoll für ihr Leben zu sein. Wie die meisten Kinder tut er sein Bestes in Form von Kooperieren in einer sehr direkten Art. Etwa dann, wenn er Verantwortung übernimmt, die eigentlich der Verantwortung eines Erwachsenen entspricht.

Das bedeutet, dass der Sohn sich mit den Mängeln seiner Mutter abgefunden hat, um seine Entwicklung als heranwachsender Mann und als Person nicht zu beschädigen oder zu verletzen. Was er allerdings bräuchte und was auch langfristig der Qualität der Beziehung zwischen den beiden guttun würde, wäre die Wertschätzung seiner Mutter. Wenn es der Mutter gelingt, ihre Wertschätzung ihrem Sohn gegenüber in einer direkten, persönlichen Art auszudrücken. Das könnte in etwa so sein: "Ich bin sehr glücklich, dass Du die Verantwortung für jene Teile Deines Lebens übernimmst, die ich nicht abdecken kann. Das ist eine große Hilfe, und ich schätze das sehr. Danke!" (Jesper Juul, 3.12.2017)