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Er widmete sich der Analyse der Herrschaftsformen und ihrer unzähligen Techniken, Gegenstandsfelder wie die "Sexualität" hervorzubringen: der französische Philosoph und Einzelgänger Michel Foucault (1926–1984).

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Wien – Die Idee, man könne sich über alle Fragen der Sexualität frei und ungezwungen äußern, ist verhältnismäßig jung. Noch zu Beginn des 17. Jahrhunderts, schreibt Philosoph Michel Foucault, sei über die Lüste roh, unanständig und freimütig gesprochen worden. Das Unziemliche wurde geduldet, die Schamlosigkeit fand Platz in den Verlautbarungen der Volksseele.

Erst mit Beginn der Moderne wurde über den Sex in unseren Breiten ein einigermaßen blickdichter Mantel geworfen. Die Praktiken gehörten in das Schlafzimmer, das obendrein ehelich zu sein hatte. Alle Freuden der Geschlechtlichkeit wurden in den Dienst der Fortpflanzung gestellt. Und doch: Es irrt sich gründlich, wer da meint, die Prüderie hätte das Thema der Lüste – und wie man sie erregt – gekapert gehabt.

Foucault (1926–1984), dem Analytiker der Herrschaftsformen, gelang der verblüffende Nachweis des Gegenteils. Anstatt den Sex zu verschweigen und ihn zum Verschwinden zu bringen, bemächtigen sich seiner die Instanzen der Macht. Nicht nur das kirchliche Beichtwesen verwaltet seit dem Mittelalter das Gewissen jedes seiner Schäfchen. Seit dem naturwissenschaftlichen 19. Jahrhundert wird der naturwüchsige Sex in "Sexualität" verwandelt.

Wie man Menschen enteignet

Sexualität meint das normierte Allgemeine, wo in Wahrheit die individuellen Ansprüche auf die je eigene Geschlechtlichkeit auf dem Spiel stehen. Foucault deckte zur Mitte der 1970er-Jahre auf, wie man Menschen tendenziell enteignet, indem man sie zu Geständnissen zwingt und dabei wie Gegenstände behandelt.

Die Verwalter der Lüste machen die schnöde Geschlechtlichkeit zum Gegenstand einer schier unermüdlichen Produktion von Wissen. An der Grenze von Ökonomie und Biologie entsteht die methodische Erfassung aller nur denkbaren sexuellen Verhaltensweisen. Die Instanzen – und Institutionen – der Macht erzeugen unzählige neue Gesprächs- und Mitteilungsformen. Gemeint sind nicht unbedingt die Hinweise unter dem Hashtag #MeToo.

Die Zwänge der Macht

Was über den Sex überhaupt ausgesagt werden kann, das bestimmen von nun an die Verlautbarungszwänge der Macht. Ein Heer von Pädagogen, Medizinern, Irrenwärtern und Prognostikern setzt sich in Bewegung. Sie alle fühlen sich dazu aufgefordert, die Menschen von Kindesbeinen an möglichst lückenlos sexuell zu erfassen. Der Wille zum Wissen (so der Foucault'sche Buchtitel von 1976) spannt ein dichtes Netz über alle Fragen des "Sexes". Selbst Abweichungen von der Norm werden mit heißem Bemühen kartografiert. Die sogenannten Perversionen finden ihren verpönten Platz. Das persönliche Geständnis bildet die Basis jeder Aufdeckung, die zu Wissen führt.

Es ist eine Binsenweisheit, dass die sexuelle Revolution, wenigstens ihrem Anspruch nach, zur Rückaneignung der Sexualität geführt hat. Der Kampf für die Rechte vermeintlich "abweichender" Lebensformen und deren Praktiken gehört mehr denn je zu den Hauptanliegen einer Emanzipation, die mit sich und ihren Potenzialen niemals zur Ruhe kommt.

Schändliche Verwirrung

Die Herstellung von "Wissen" über die Sexualität gestaltet sich jedoch schwieriger denn je. Der Fall der Ex-Skirennläuferin Nicola Werdenigg enthüllt die ungebrochene Lust von Machtinstanzen, selbst zu bestimmen, wie man über die gewaltsame Durchsetzung sexueller Interessen zu sprechen hat. Gefordert wurde vom Österreichischen Skiverband die Nennung von "Namen". Als würde damit die Ungeheuerlichkeit der Vergewaltigung einer 16-jährigen Schutzbefohlenen, viele Jahre nach der Verjährung, noch einmal abgemildert.

So befinden sich heute noch die Kategorien in schändlicher Verwirrung. Die Gewalttäter gebärdeten sich früher als Gurus der "erotischen Kunst". Junge Sportlerinnen wurden initiiert, indem man sie ganz offensichtlich penetrierte. Der perversen "ars erotica" vis-à-vis aber steht die "scientia sexualis". In deren Namen existiert die Aufforderung zum Geständnis fort. Es sind die ungebrochenen Instanzen der Macht, die bestimmen wollen, wer etwas wie und auf welche Weise zu sagen hat. (Ronald Pohl, 1.12.2017)