Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu (Bild) wird von Präsident Tayyip Erdoğan unter Druck gesetzt.

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Nur wenige Stunden nach drohenden Worten des türkischen Staatspräsidenten Tayyip Erdoğan hat die Staatsanwaltschaft in Ankara am Donnerstagnachmittag die Aufnahme von Ermittlungen gegen Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu bekanntgegeben. Der Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei (CHP) wurde zunächst aufgefordert, die Dokumente zu übergeben, die er Anfang der Woche in einer Rede vor der Parlamentsfraktion hochgehalten hatte und die Geldüberweisungen der Erdoğan-Familie in Millionenhöhe an eine Offshore-Firma belegen sollen. "Er wird die Rechnung dafür bezahlen", kündigte Erdoğan am Donnerstag an.

In den letzten Dezembertagen des Jahres 2011 und im Jänner 2012 soll die Familie des heutigen Präsidenten in verschiedenen Tranchen rund 15 Millionen Dollar (12,7 Millionen Euro) an die auf der Kanalinsel Isle of Man registrierte Bellway Ltd. gesandt haben. Erdoğans ältester Sohn Burak, der Bruder des Präsidenten, Mustafa Erdoğan, der Schwager des Präsidenten, Ziya Ilgen, Buraks Schwiegervater Osman Ketenci und ein Vertrauter der Familie, Mustafa Gündogan, sollen auf den Banküberweisungen als Auftraggeber aufgelistet sein. Bellway selbst war im Sommer 2011 von einem anderen Freund der Familie, Sitki Ayan, mit einem Pfund Kapital gegründet worden.

Konfuse Reaktionen

Die Reaktion des Präsidentenpalasts auf die Enthüllungen des Oppositionsführers am Dienstag dieser Woche waren zunächst konfus. Erdoğans Anwälte bezeichneten die Dokumente sogleich als Fälschung. Andere erklärten, der Vorgang sei ohnehin verjährt. Erdoğan selbst wiederum gab mittlerweile an, das Geld stamme aus dem Verkauf von Unternehmen. Die genannten fünf Personen hätten diese Summen jedoch erhalten und nicht an die Offshore-Firma gesandt, erklärte Erdoğan, dies sei eine Lüge. Er selbst habe auch keinen einzigen Kuruş (Cent) ins Ausland überwiesen.

Kılıçdaroğlu soll zuerst vorgehabt haben, die Dokumente am Dienstag nach der Rede gleich an die Presse weiterzugeben. Seine Berater überredeten ihn aber, schrittweise vorzugehen. Was sie damit bezwecken, ist nicht recht klar. Am Donnerstag gab der Oppositionsführer an, er habe die Dokumente nicht von den Gülenisten erhalten – den Anhängern oder Mitgliedern der in der Türkei mittlerweile zur Terrororganisation erklärten Bewegung des Predigers Fethullah Gülen, des ehemaligen politischen Verbündeten Erdoğans.

Es gebe in der Türkei vielmehr Millionen von Beamten, die ihr Land liebten, erklärte Kılıçdaroğlu. Er wird nun mindestens mit Verleumdungsklagen rechnen müssen. Die aufgebrachte Tonart der Regierungspartei und von Premier Binali Yıldırım – seine Söhne sind in den Paradise Papers aufgelistet – lässt aber schon die Konstruktion einer Anklage wegen Hochverrats möglich erscheinen.

Tabuthema Familie

Der Reichtum, den Erdoğan und seine Familie in den mehr als 20 Jahren an der Macht (zunächst in Istanbul, dann als Regierungschef und Präsident in Ankara) angehäuft haben, ist ein Tabuthema in der Türkei. Kılıçdaroğlu insinuiert, dass die Überweisungen an diese eine Offshore-Firma ein Fall von Steuerhinterziehung seien. Den Beweis dafür bleibt er bisher schuldig.

Erdoğan und seine konservativ-islamische Regierungspartei stehen zugleich aber unter enormem Druck durch die Aussagen des türkisch-iranischen Goldhändlers Reza Zarrab vor einem Gericht in New York. Sämtliche Zeitungen in der Türkei, die im Regierungslager stehen oder von ihm kontrolliert werden, vermieden am Donnerstag, über Zarrabs Anschuldigungen zu berichten. Auch die Nachrichtensender ließen bei der Berichterstattung die eine, aber wesentliche Information aus: 45 bis 50 Millionen Euro will Zarrab im Jahr 2012 Erdoğans damaligem Wirtschaftsminister Zafer Çağlayan gezahlt haben. Çağlayan wollte an dem Milliardengeschäft in der Türkei zur Umgehung der Iran-Sanktionen der USA mit 50 Prozent beteiligt werden, sagte Zarrab aus.

"Geisel" Zarrab

Erdoğan, seine Regierung und die ihr folgende Presse versuchten am Donnerstag die kompromittierenden Aussagen Zarrabs wegzuwischen. Zarrab sei eine Geisel der US-Justiz geworden, hieß es vielfach. Seine Angaben seien deshalb erfunden und erpresst. (Markus Bernath, 30.11.2017)