Wissen statt Schokolade: Die Wissenschaftsredaktion empfiehlt von 1. bis 24. Dezember täglich ein neues Buch aus dem Bereich Wissenschaft, das Sie sich oder Ihren Lieben gut und gern unter den Christbaum legen oder auch einfach so schenken können. Schlimme Kinder, die wir sind, öffnen wir das Türchen immer schon am Vorabend. Wenn Sie zu den Rezensionen etwas posten wollen, schreiben Sie bitte Titel oder Autor des besprochenen Buchs in die Titelzeile, damit die Zuordnung klar ist. Und wenn Sie selbst Buchneuerscheinungen empfehlen wollen, freuen wir uns darüber!

Wir empfehlen heute:

Ein fantastisches Sammelsurium des Lebens

Der Taschen-Verlag legt "Die Kunst und Wissenschaft von Ernst Haeckel" in einem opulenten Band neu auf – und würdigt damit einen grandiosen Zeichner und Biologen mit Schattenseiten

Das letzte Fenster unseres Bücher-Adventkalenders, das wir heute aufblättern, ist naturgemäß ein großes, und damit umso prachtvolleres: Gewaltige acht Kilo wiegt der 700 Seiten starke Band aus dem Hause Taschen, in dem die Kunst und Wissenschaft des deutschen Biologen Ernst Haeckel (1834–1919) gewürdigt wird.

Schon allein die Vielfalt an akkuraten und feinziselierten Abbildungen versetzt einen ins Staunen. Wie psychedelische Mandalas oder unwirkliche Geschöpfe aus einer anderen Welt wirken sie zuweilen, die filigranen Zeichnungen von Strahlentierchen, Korallen, Tiefseemedusen, Staatsquallen, Seeanämonen und Schwämmen.

Kunstformen der Natur

Regelmäßige Wabenstrukturen geben Einzellern einen technoiden 3D-Effekt, die Fänge von in allen Farben leuchtenden Staatsquallen ranken sich spiralförmig über die Seiten, als würden sie noch im Wasser schwimmen. Es ist ein fantastisches Sammelsurium an Lebewesen, das Haeckel in seinem Werk versammelt und das in den berühmten Tafeln aus "Kunstformen der Natur" gipfelte.

Der leidenschaftliche Popularisator der Theorien Charles Darwins verbrachte sein Leben damit, die Tier- und Pflanzenwelt zu erkunden und zu dokumentieren, entdeckte zahlreiche Meeresorganismen, beschrieb sie und zeichnete sie in all ihren Entwicklungsstadien in unerreichter Anmut und Präzision. Der Taschen-Verlag hat seine berühmtesten Arbeiten in dem opulenten, dreisprachigen Band (Englisch, Deutsch, Französisch) neu aufgelegt.

Streitbarer Evolutionstheoretiker

"Ernst Haeckel verdanken wir die schönsten und die hässlichsten Ansichten der Evolutionstheorie", schreibt Julia Voss in einem der einleitenden Texte des Bandes. Haeckel war zeit seines Lebens ein umtriebiger Redner, publizierte, polemisierte und focht heftige Kontroversen aus. Politik bezeichnete er als "angewandte Biologie", selbst stilisierte er sich zum Vorreiter des Monismus, eines Weltbilds, bei dem die Vielfalt der Phänomene auf einem einzigen Prinzip beruht, für Haeckel das Prinzip der Evolution. Er wollte die Wissenschaft an sich neu strukturieren und gilt als Erfinder von Begriffen wie "Ökologie" und "Stamm".

Der Verfechter einer Trennung von Staat und Kirche setzte sich vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs noch für Pazifismus ein, machte dann aber eine Kehrtwende zum Nationalismus und Rassismus und verstieg sich in krudesten Rassentheorien. Der anhaltenden Faszination seines künstlerischen Werks machte das keinen Abbruch: Nicht nur der Jugendstil ließ sich nachhaltig von Haeckels ornamentalen Illustrationen inspirieren. Und noch heute versprühen die schwarz-weißen oder zart kolorierten Geschöpfe eine ungemeine Anziehungskraft – und zeigen, wie fließend doch die Grenzen zwischen Kunst und Natur sind. Frohe Weihnachten! (Karin Krichmayr, 24.12.2017)

Rainer Willmann und Julia Voss: "The Art and Science of Ernst Haeckel". € 150 / 704 Seiten. Taschen, Köln 2017

Hier paar Seiten zur Kostprobe.

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Foto: Taschen/Köln

23. Dezember: Rasante Reise durch Raum und Zeit

Der Astrophysiker Neil de Grasse Tyson zeigt wieder einmal meisterhaft, wie unterhaltsam komplexe astronomische Themen aufbereitet werden können

"Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde", behauptet bekanntermaßen die Genesis. Im neuen Buch des US-amerikanischen Astrophysikers Neil de Grasse Tyson klingt das schon überzeugender: "In the beginning, nearly fourteen billion years ago, all the space and all the matter and all the energy of the known universe was contained in a volume less than one-trillionth the size of the period of this sentence." Was auf diesen Punkt am Ende des ersten Satzes von "Astrophysics for People in a Hurry" folgt, ist eine rasante Reise durch das Universum, die annähernd Lichtgeschwindigkeit erreicht.

Leicht verständlich und ausgesprochen unterhaltsam führt de Grasse Tyson seine Leserinnen und Leser in zwölf Kapiteln in grundlegende Fragen und Erkenntnisse der Astrophysik ein, und das auf knapp 200 Seiten. Der Anspruch, der bereits im Titel festgeschrieben ist, wird dabei stets betont: interessierten Nicht-Physikern, die keine Zeit zum Lesen dicker astronomischer Wälzer haben, einen schnellen und doch umfangreichen Überblick zu verschaffen. Das gelingt erstaunlich gut – die Themen der jeweils in sich abgeschlossenen Kapitel reichen vom Urknall über Dunkle Materie und Dunkle Energie bis zur Entstehung der Elemente oder der Suche nach Leben fern der Erde.

Planetarischer Perspektivenwechsel

Durch seine zahlreichen populärwissenschaftlichen Bücher, Radio- und Fernsehsendungen ist de Grasse Tyson einer der bekanntesten Astronomen der USA. Dass man es hier nicht nur mit einem Physiker, sondern mit einem echten Profi der Wissenschaftskommunikation zutun hat, merkt man etwa im Kapitel Exoplanet Earth: Die Forschung zu Exoplaneten, also Planeten außerhalb des Sonnensystems, wird hier kurzerhand aus der Perspektive von Außerirdischen erklärt. Mit welchen Methoden könnte man von da draußen die Erde finden, wie würde sie erscheinen und was ließe sich über Leben oder gar Zivilisation auf unserem Planeten aus der Ferne herausfinden?

Dem schlanken Umfang des Buches sind natürlich zwangsläufig einige inhaltliche Abstriche geschuldet, so findet sich etwa nur recht wenig über die Evolution von Sternen oder neueste Teleskoptechnologien. Ab und an ist auch der Übergang von einem Kapitel zum nächsten etwas holprig – was wohl daran liegen mag, dass einige der Texte bereits früher als längere Essays erschienen sind und nun erstmals zusammengefügt wurden.

Insgesamt hinterlässt einen das Buch aber wissender und gleichzeitig interessierter als zuvor – vielleicht finden Eilige demnächst dann doch einmal Zeit für ein etwas umfangreicheres Buch. So geht Wissenschaftskommunikation, ganz im Sinne Albert Einsteins, der einmal sagte: "Man muß die Dinge so einfach wie möglich machen. Aber nicht einfacher." (David Rennert, 23.12.2017)

Neil de Grasse Tyson: "Astrophysics for People in a Hurry". € 16,99 / 224 Seiten. Norton & Company, New York, 2017

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Foto: Norton

Handbuch zur Entschleunigung

Zusammenhänge verstehen und sich daran anpassen: Thomas L. Friedman erklärt unsere komplexe Welt

Müsste man einem langjährigen Koma-Patienten unsere moderne Welt erklären, würde sich ohne Zweifel "Thank You for Being Late" als Lehrbuch dafür eignen. Der New York Times-Journalist Thomas L. Friedman erklärt darin, wie unsere beschleunigte Welt funktioniert. Doch nicht nur, wer die letzten Jahre versäumt hat, auch wer ganz aufmerksam Medien konsumiert, so schreibt Friedman, fühle sich oft überfordert.

Das liegt an der Menge an komplexen Informationen, die auf uns einwirkt. Und an ihrer Geschwindigkeit, denn Veränderung funktioniert heute wesentlich schneller als in vergangenen Zeiten. Vor tausend Jahren mussten Jahrhunderte vergehen, ehe die Welt sich spürbar veränderte. So wurde etwa der Langbogen im 12. Jahrhundert erfunden, zum militärischen Einsatz kam er erst Mitte des 13. Jahrhunderts, schreibt Friedman.

Heute geht alles Schlag auf Schlag. Nicht in Angst verfallen, sondern Innehalten, sei nun das Mittel der Wahl, empfiehlt der Autor. "Thank you for being late" heißt deshalb so, weil Friedman sich freut, wenn Gesprächspartner zu Terminen zu spät kommen, weil das die Zeit ist, in der er die Pause-Taste drücken kann.

Verstehen und reagieren

Sein Rezept: Ehrliche, ruhige Erklärungen. Denn nur wer versteht, wie unsere komplexe Welt funktioniert, der kann auch über sie nachdenken und darauf reagieren. Und so erklärt Friedman in seinem Buch technische Innovationen, wirtschaftliche Vorgänge, klimatische und politische Entwicklungen – langsam, anschaulich, persönlich und verständlich.

Nach der Erklärung folgt die "Erneuerung" – so heißt auch Friedmans längstes Kapitel. Darin schlägt er vor, sich an die Schnelligkeit anzupassen, mit ihr leben zu lernen. Friedman zeigt auf, dass es in sämtlichen Bereichen ein Umdenken brauchen wird, die Gesellschaft sich ganz neu erfinden muss. Konkrete Beispiele: Herausfinden, was Menschen besser können als Maschinen, die künstliche Intelligenz zu unserem Verbündeten machen, Bildung und Ausbildung dahingehend verbessern, hin und wieder vom Digitalen zum Analogen zurückkehren, in Entwicklungsländer investieren, von der Natur lernen und Vielfalt akzeptieren.

Ein gutes Leben führen

Spätestens in Friedmans letztem Kapitel bekommt der Leser das Gefühl: Alles wird gut. Denn der Autor ist überzeugt, mit all den Möglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen – intelligente Maschinen inklusive – wird es der Menschheit gemeinsam möglich sein, in Zukunft Probleme besser zu lösen, produktiver, widerstandsfähiger und wohlhabender zu werden.

Am Ende ist Friedmans Buch ein Plädoyer gegen Panikmache und will vor allem Mut machen, positiv in die Zukunft zu schauen. Der Autor ist überzeugt: Auch das zweite Viertel des 21. Jahrhunderts wird ein erstaunliches Zeitalter werden, in dem mehr Menschen als je zuvor ein gutes Leben führen können. (Bernadette Redl, 22.12.2017)

Thomas L. Friedman: "Thank You for Being Late. Ein optimistisches Handbuch für das Zeitalter der Beschleunigung". € 24,70 / 480 Seiten. Lübbe, Köln, 2016

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Foto: Lübbe

Hitlerkäfer, Froschregen und andere Merkwürdigkeiten

Ein wunderschön illustrierter Band erzählt bahnbrechende Entdeckungen, kuriose Zufälle und bizarre Begebenheiten rund um einzelne Tierarten

Man kennt das aus Kindertagen: Bücher, in denen man Seiten oder nur Teile davon aufklappen, durch Löcher hindurch auf die nächste Seite spähen kann, üben eine besondere Faszination aus – sie machen das Lesen zu einem haptischen Erlebnis. Auf so eine wundersame Entdeckungsreise nimmt einen der Band mit dem etwas spröde geratenen Titel "Ich werde über diese Merkwürdigkeit noch etwas drucken lassen. Tiermeldungen aus zwei Jahrtausenden" mit. Das Buch hat allerdings weder bunte Seiten noch sonstige auffällige Merkmale, die einem zum Lesen anstiften, sondern kommt ganz schlicht daher.

Drogenboot in Form eines Wals

Und hat es doch in sich: Wir erfahren, was es mit dem Hitlerkäfer in den Julischen Alpen auf sich hat. Wie sich afrikanische Elefanten evolutionär an den Elfenbeinschmuggel angepasst haben. Wie 1822 der Beweis erbracht wurde, dass Vögel im Winter in den Süden ziehen. Wie 2011 in Kolumbien ein Drogen-U-Boot in Form eines Buckelwals aufflog. Wie 1904 die Genetikerin Nettie Stevens den Weg der Fruchtfliege als Star-Labortier ebnete und ihr Institutsleiter Ruhm und Nobelpreis dafür einheimste.

Ausgehend von skurrilen Zeitungsmeldungen haben der Wissenschaftsillustrator Florian Weiß und die Publizistin Lucia Jay von Seldeneck derartige Happen gar nicht unnützen Wissens in 30 Kurzgeschichten eingebettet, die direkt zu den (Neben-)Schauplätzen wissenschaftlicher Entdeckungen, folgenschwerer Verwicklungen und kurioser Einfälle führen und nicht selten dem Zufall geschuldet sind.

Aufschlagseite mit Spannungseffekt

Die Geschichten dokumentieren jedoch nicht einfach schnöde historische Begebenheiten, sondern nähern sich erzählerisch an die Umstände der Entdeckungen an. Dabei geben sie oft gar nicht gleich die "Auflösung" preis und folgen so dem Prinzip der erwähnten Kinderbücher: Das gesuchte Tier, um das sich je eine Geschichte dreht, ist nur angedeutet auf einem Deckblatt zu sehen, das erst nach dem Aufklappen einer Doppelseite in voller schwarz-weiß-Pracht sichtbar ist. Erst danach wird in einem knappen sachlichen Eintrag der wissenschaftliche Hintergrund erläutert. Auf einer weiteren Seite ist der Ort des Geschehens auf einem Atlas markiert.

Die Struktur allein baut also eine gewisse Spannung auf, die auch voll eingelöst wird. Die liebevoll inszenierten "Tiermeldungen" dokumentieren vergessene Fußnoten in der Geschichte und holen ungeklärte Phänomene wie den Froschregen oder das Fachgebiet der Maulwurfologie ans Licht. Sie gehen aber auch den oft komplett unspektakulären Ursprüngen von Begebenheiten auf den Grund, die zu revolutionären Entwicklungen geführt haben. Ein wunderschön gestaltetes Buch (hier ein paar Probeseiten) voller lesenswerter Merkwürdigkeiten. (Karin Krichmayr, 21.12.2017)

Florian Weiß & Lucia Jay von Seldeneck: "Ich werde über diese Merkwürdigkeit noch etwas drucken lassen. Tiermeldungen aus zwei Jahrtausenden". € 28,80 / 196 Seiten. Kunstanstifter Verlag, Mannheim 2017

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Foto: Kunstanstifter Verlag

Heilende Erzählungen einer scheinbar unheilbaren Krankheit

Erinnerung ist das, was uns menschlich macht. Joseph Jebelli begibt sich auf eine Reise durch die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Alzheimer-Forschung

"Die Idee ist es, so spät wie möglich jung zu sterben." So zitiert Joseph Jebelli den verstorbenen Anthropologen Ashley Montagu.

Es stimmt. Beim Thema Alzheimer wirkt der Buchmarkt heutzutage eher gesättigt. Jedoch nicht bei Büchern, die es schaffen, eine medizinische, historische und persönliche Herangehensweise erfolgreich zu vereinen. Joseph Jebellis Buch "In Pursuit of Memory" ist so eines. Auf 301 kurzweiligen Seiten erzählt er dabei auf gleichermaßen berührende als auch wissenschaftliche Weise die Geschichte einer Krankheit, die heute 47 Millionen Menschen weltweit betrifft.

Persönliche Spuren

Gerade einmal zwölf war der Brite, als sein Großvater begann, sich seltsam zu verhalten. Er erkannte bald, dass es nicht ein normaler Alterungsprozess war, denn auch die Queen konnte mit ihren vorangeschrittenen Jahren noch intelligente Reden halten. Sein entfachtes Interesse brachte ihn auf seiner wissenschaftlichen Laufbahn schließlich bis zu einem Doktoratsstudium in Neurobiologie am University College London.

Nach Veröffentlichungen in britischen Publikationen wie dem "Guardian" erschien nun Jebellis erstes Buch, das den Leser auf eine Reise in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Krankheit mitnimmt. Weit war der Weg, der von mittelalterlichen Erklärungen wie "Besessenheit" hin zu modernen Forschungserkenntnissen reicht, die die Krankheit als Folge absterbender Gehirnzellen aufgrund von deformierten Proteinen erklären.

Irrwege der Wissenschaft

Seine beinah therapeutische Art der Wissensvermittlung kombiniert er dabei gekonnt mit der richtigen Menge an (auto)biografischen Elementen. Dort, wo die Wissenschaft noch im Dunkeln zu tappen scheint, füllt er die Leere mit Erzählungen von Besuchen bei betroffenen Familien. Denn dort sieht er die eigentlich Leidtragenden der Krankheit: Familien werden die letzten Jahre mit ihren Liebsten geraubt.

In Kapiteln zu Ursprung, Forschung und Prävention scheut er weder vor großen Fragen der Wissenschaftsgeschichte noch vor biologischen Grundlagen zurück – wie der Unterscheidung von verschiedenen Gehirnzellen. Auch begibt er sich auf die Irrwege der Wissenschaft und erläutert gekonnt Erklärungen für Alzheimer, die sich später als falsch herausstellten.

Am Ende beweist Jebelli noch einmal, dass sich seine Exploration des Themas von vielen anderen unterscheidet. Denn so viel sei verraten: Es mangelt dem Buch auch nicht an Hoffnung. (Katharina Kropshofer, 20.12.2017)

Joseph Jebelli: "In Pursuit of Memory: The Fight against Alzheimer's". € 21,99 / 301 Seiten. John Murray Publishers, London

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Foto: John Murray Publishers

Wellenritt durch die Quantenwelt

Der Physiker Frank S. Levin hat eine Einführung in die Quantenphysik vorgelegt, die sich zwar nicht besonders von früheren Einführungen abhebt, aber mitreißend begeisternd geschrieben ist

Von Gravitationswellen haben wir ja im vergangenen Jahr ausführlich gehört – wurde doch im Februar 2016 der erste Nachweis der von Einstein vorhergesagten Wellen bekannt gegeben. Frank S. Levin, emeritierter Professor für Physik der US-amerikanischen Brown University, widmet seine aktuelle Neuerscheinung einer anderen Welle der Physik: Unter dem Titel "Surfing the Quantum World" lädt er seine Leserinnen und Leser dazu ein, das "mentale Surfbrett" zu schnappen und mit ihm einen Ausritt durch die Welt der Quantenphysik zu wagen.

Doch was hat die Wellenmetapher mit Quantenphysik zu tun? 1924 postulierte der französische Physiker Louis de Broglie, dass auch Teilchen wie beispielsweise Elektronen Welleneigenschaften haben, etwa eine Wellenlänge. Zu dieser Zeit hatten sich die Physiker gerade einmal daran gewöhnt, dass Licht sowohl Wellen- wie auch Teilcheneigenschaften hat.

Einstein als prominenter Fürsprecher

So wurde der Vorschlag zunächst recht skeptisch beäugt – jedenfalls bis sich mit Albert Einstein bald ein prominenter Fürsprecher auf Louis de Broglies Seite stellte. Als dann wenig später auch noch Erwin Schrödinger die Wellenfunktion aufstellte, mit der sich die Quantenmechanik auf elegante Weise mathematisch beschreiben lässt, war die Wellennatur der Materie beschlossene Sache.

Mit möglichst wenig Formeln und "so einfach wie möglich, aber nicht einfacher" versucht Levin, seine Leserinnen und Leser nicht nur mit den Grundlagen der Quantenphysik wie dem Prinzip der Verschränkung und der Realität der Atome vertraut zu machen, sondern auch mit makroskopischen Manifestationen der Quantentheorie und möglichen Interpretationen. Levins Buch ist freilich nicht die erste Einführung in die Quantenphysik und sie hebt sich inhaltlich auch nicht enorm von anderen Einführungen ab. Die Begeisterung, die der Autor für die Physik der kleinsten Teilchen an den Tag legt, ist dennoch durchaus mitreißend. (Tanja Traxler, 19.12.2017)

Frank S. Levin: "Surfing the Quantum World". € 30,49 / 293 Seiten. Oxford University Press, Oxford 2017

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Foto: Oxford

Mensch und Wolf – eine komplizierte Beziehung

Der Wolf siedelt sich in unseren Breiten wieder an – und löst eine hitzige Debatte aus. Andreas Beerlage hat einen lesenswerten Beitrag zur Versachlichung der Diskussion verfasst

Das jüngste Kapitel einer uralten Beziehung sorgt, nach langer Unterbrechung, im 21. Jahrhundert auch in Deutschland und Österreich wieder für Diskussionen: Homo sapiens (der Mensch) und Canis lupus (der Wolf) kommen sich wieder näher. Jahrzehnte nach seiner weitgehenden Ausrottung in unseren Breiten kehrt der Wolf langsam zurück. Im Jahr 2000 kam erstmals seit knapp 100 Jahren ein Wolf auf deutschem Boden zur Welt, 2016 zählte man in der Bundesrepublik schon 69 Rudel. Auch in Österreich wurden in den vergangenen Jahren wieder vermehrt Grauwölfe gesichtet, 2016 gab es im Waldviertel den ersten dokumentierten Wolfsnachwuchs der Zweiten österreichischen Republik.

Mit dem Wolf zog auch ein (erwartbarer) Streit in unsere Gefilde, in dem sich vor allem zwei Positionen Gehör verschaffen: Hysterie, Angst und Hass auf der einen Seite, ein romantisch-verklärtes Bild der Natur auf der anderen, oder anders gesagt: der Wolf als Feind der modernen Zivilisation versus der Wolf als Retter der Ökosysteme. "Kein anderes Tier birgt größere gesellschaftliche Sprengkraft. Sichtweisen auf ihn gibt es nur in Schwarz oder Weiß. Wer nicht für ihn ist, muss gegen ihn sein", schreibt Andreas Beerlage.

Mythos auf vier Beinen

In seinem neuen Buch "Wolfsfährten" liefert der deutsche Journalist einen informativen Beitrag zur dringend nötigen Versachlichung dieser Debatte: Beerlage zeichnet die (übrigens selbstständige) Wiederansiedlung des Wolfs in Deutschland nach und beleuchtet Folgen, Probleme und Chancen von allen Seiten. In Gesprächen mit Wissenschaftern, Schafzüchtern, Jägern und Umweltschützern sowie aus Medienberichten, Internetforen und Fachtagungen trägt Beerlage Informationen zusammen, die die sehr unterschiedlichen Interessen und Perspektiven beleuchten; vor allem aber führen sie Stück für Stück zu einer Entzauberung des Wolfes und verwandeln ihn in das, was er ist, lässt man einmal alle Aufregung und Emotion beiseite: ein intelligentes Wildtier, das weder gut noch böse ist.

Hinter dem heißen Pro und Kontra, so argumentiert der Autor, steckt zu einem nicht unerheblichen Teil noch immer die mythische Rolle, die die Vierbeiner seit Ewigkeiten in der Vorstellung (und Legendenbildung) der Menschen spielen. Dazu gesellen sich dann noch eher moderne politisch-ideologische Denkmuster, der Konflikt zwischen Zentrum und Peripherie und der Dauerkampf zwischen Jägern und Naturschützern. "Wahrscheinlich ist es die Mischung aus beidem – aus der mythischen Verbindung in grauen Vorzeiten und dem Aufeinanderprallen zweier Denkwelten –, die den Streit um den Wolf so explosiv macht", befindet Beerlage.

Des Menschen Wolf

Die Probleme, die es mit der wilden Stammform unserer Hunde gibt, werden in dem Buch ausführlich behandelt. Für den Autor ist es aber vor allem unsere Spezies, die dafür verantwortlich ist: Die Fragmentierung der natürlichen Lebensräume durch Landwirtschaft und Infrastruktur, Mülldeponien, "Wolfsfreunde", die die Tiere füttern oder Wildhüter, die kranke Welpen aufpeppeln und wieder aussetzen: All das führt dazu, dass sich Wölfe an den Kontakt mit Menschen gewöhnen und ihre Scheu verlieren. Das kann gefährlich werden. Behörden, die nicht oder nur zögerlich reagieren und damit die Sorgen der Bürger und Landwirte nicht ausreichend Ernst nehmen, entschärfen die Problemlage – und damit die Diskussion um den Wolf – auch nicht gerade. Beerlages Buch bietet einen unterhaltsamen und informativen Einblick in die Materie, nebenbei werden viele faszinierende biologische Fakten zum Wolf serviert. Würde nicht ab und an der übermotivierte Drang des Autors, witzig sein zu wollen, hervorstechen, wäre das Buch sogar noch besser. (David Rennert, 18.12.2017)

Andreas Beerlage: "Wolfsfährten. Alles über die Rückkehr der grauen Jäger". € 20,60 / 240 Seiten. Gütersloher Verlagshaus, München 2017

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Foto: Gütersloher Verlagshaus

Provokante Gedanken eines atheistischen Juden über das Judentum

Der austro-französische Historiker und Intellektuelle Jérôme Segal, der von der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien als Mitglied anerkannt, dann aber wieder ausgeschlossen wurde, argumentiert für eine Art "heterodoxes" Jüdischsein jenseits der Religion

Wie viele Juden heute in Österreich und in Wien leben, lässt sich nicht genau sagen. Verlässlichere Zahlen gibt es aus der Zeit vor dem Nationalsozialismus: Von den rund 182.000 Juden, die laut Volkszählung 1934 in ganz Österreich lebten, hatten 167.000 ihren Wohnsitz in Wien. Elf Jahre vorher hatten noch über 200.000 Juden allein in der Bundeshauptstadt gelebt, elf Jahre später waren es österreichweit nur noch zwischen 2000 und 5000. Die anderen waren von den Nationalsozialisten vertrieben, ermordet oder in den Selbstmord getrieben worden.

Voraussetzung für das Judentum

Heute zählt die Israelitische Kultusgemeinde Wien (IKG) rund 8.000 Mitglieder und schätzt, dass etwa doppelt so viele Jüdinnen und Juden in Österreich leben. Doch was ist Voraussetzung und Kriterium dafür, als jüdisch anerkannt zu werden? Mit diesen Fragen bekam es der aus Frankreich stammende Historiker und Intellektuelle Jérôme Segal im Laufe seines Lebens immer wieder zu tun.

Der an einer der "Grandes écoles" eigentlich als Ingenieur ausgebildete Segal, der heute an der Sorbonne lehrt und zwischen Wien und Paris pendelt, wurde 2011 nach langen Diskussionen als IKG-Mitglied anerkannt, nachdem er beweisen konnte, dass die Mutter seiner Mutter den Judenstern tragen musste. (Sein Urgroßvater kam 1917 aus Galizien nach Wien und flüchtete 1938 nach Frankreich.) Als er dann Anfang dieses Jahres der Zeitschrift Charlie Hebdo" ein Interview gab, das unter dem Titel "Jude sein ohne Glauben" erschien, wurde er wieder ausgeschlossen.

Jude und/oder Atheist

Über dieses Thema – wie man Jude und zugleich Atheist sein kann – hat Segal, der viele Jahre beim Jüdischen Filmfestival in Wien mitarbeitete und einen lesenswerten politischen Blog betreibt, nun ein ganzes Buch geschrieben. Der Titel "Judentum über die Religion hinaus" ist programmatisch zu verstehen und wird in acht Kapiteln eingelöst, die kein noch so sensibles und schwieriges Thema auslassen.

So spricht sich der streitbare Autor gegen die Beschneidung aus, und – als praktizierender Veganer – gegen die Schächtung. Er thematisiert (und kritisiert) zudem den Sexismus, den Biologismus und den Rassismus, die sich seiner Meinung nach in bestimmten Definitionen und Abgrenzungen des "Jüdischseins" finden. Er denkt schließlich auch über den seiner Meinung nach irreführenden Begriff "Shoa" nach, und wenig überraschend nimmt Segal Anstoß an Teilen der aktuellen Politik Israels.

Heterodoxes Jüdisch-Sein

Für seine mit viel Leidenschaft vorgetragenen Argumente, die für ein Jüdisch-Sein jenseits der Religion, aber eben auch jenseits biologischer und anderer essenzialistischer Kriterien eintreten, zitiert Segal immer wieder große Denker, die gute Argumente für ein solches heterodoxes, intellektuell engagiertes und solidarisches Jüdisch-Sein beisteuern, von Sigmund Freud über Emmanuel Levinas bis zu Daniel Cohn-Bendit. Doch nicht nur aufgrund deren Zitate finden sich in Segals Buch viele interessante Fakten, kluge Gedanken und provokante Argumente zum Judentum in Geschichte und Gegenwart.

Und auch wenn man dem Autor womöglich nicht in allen Kritikpunkten folgen mag, so bietet der Band quasi in bester jüdischer Tradition viele höchst anregende Reflexionen und Denkanstöße – für jüdische ebenso wie für nichtjüdische Leser. (Klaus Taschwer, 17.12.2017)

Jérôme Segal: "Judentum über die Religion hinaus". Aus dem Französischen von Georg Hauptfeld. € 26,80 / 168 Seiten. Edition Konturen, Wien 2017

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Edition Konturen

Ist unendlich plus eins mehr als unendlich?

Eugenia Cheng versucht in "Beyond Infinity: An Expedition to the Outer-Limits of the Mathematical Universe" mathematische Konzepte von Unendlichkeit in unsere endlichen Gehirne zu bringen

Eugenia Cheng fährt gern mit dem Boot. Nicht weil sie Angst vor dem Fliegen hat oder in der U-Bahn klaustrophobisch wird, sondern weil sie das Reisen selbst dem schnellen Ans-Ziel-Kommen vorzieht. Ganz nach dem Motto "Der Weg ist das Ziel".

Genau deshalb ist sie auch ein Fan von Unendlichkeit und der Möglichkeit, Berechnungen dafür durch tägliche Beispiele zu erklären. Im Lauf des Buches findet man deswegen nicht nur mathematische Konzepte wie Integralrechnungen und Wahrscheinlichkeiten, sondern auch Sachen wie Kuchen, Kekse und Whiskey, anhand derer sie uns die Komplexität des Fachs näherbringt.

Ein unendliches Hotel

Das gelingt ihr in "Beyond Infinity: An Expedition to the Outer-Limits of the Mathematical Universe" ganz gut, indem sie ein Hotel als zentrale Metapher benutzt. Stellen Sie sich vor, Sie haben ein Hotel mit unendlich vielen Räumen mit den Zimmernummern 1, 2, 3 ... und unendlich lang weiter. Das Hotel ist voll, denn es hat auch eine unendliche Anzahl an Gästen eingecheckt. Ist es trotzdem möglich, eine weitere Person zu beherbergen?

Sie orientierte sich bei ihrem Beispiel am Paradoxon von Hilberts Hotel des deutschen Mathematikers David Hilbert. Und auch andere Gedankenexperimente wie das des Moebius-Streifens kommen in der mathematischen Reise an die Grenzen der Vorstellbarkeit unter.

Cheng selbst ist nicht nur Professorin an der Universität Sheffield und dem School of the Art Institute in Chicago, sondern auch Youtube-Star und als klassische Pianistin ausgebildet. In der Musik sieht sie "unendliche Schönheit", wie sie in einem BBC-Interview erzählte.

Fibonacci auf Youtube

Auf Youtube versucht sie ihre Lebensaufgabe, Mathematik beliebter zu machen, noch weiter auszubreiten. Viel Vertrauen in ihr Publikum scheint sie aber beim Thema Unendlichkeit nicht zu haben: "Wer versehentlich glaubt, er habe das Konzept verstanden, ist selbst ein wandelnder Widerspruch."

Wer bist jetzt geglaubt hat, dass man Unendlichkeit einfach bekommt, indem man eins durch null dividiert, sollte sich Zeit für "Beyond Infinity" nehmen. Denn auch wenn man das Konzept am Ende noch immer nicht ganz versteht, lernt man zumindest ein paar Anekdoten, die man auf der nächsten Party erzählen kann. (Katharina Kropshofer, 16.12.2017)

Eugenia Cheng: "Beyond Infinity: An Expedition to the Outer-Limits of the Mathematical Universe". € 11,99 / 284 Seiten. Profile Books, London 2017

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Foto: Profile Books

Außenseiter auf einem Kontinent der Flucht

Der Historiker Philipp Ther legt in seiner Geschichte der Fluchtbewegungen bloß, wie Europa in der Vergangenheit weit schwierigere "Flüchtlingskrisen" meisterte und was heute schiefgeht

Die Familie Dublon aus Erfurt gehörte zu jenen 937 Menschen, die 1939 an Bord des Passagierschiffs St. Louis in Richtung USA aufbrachen, um sich vor den Nazis in Sicherheit zu bringen. Mehr als eine Woche kreuzte das Schiff vor der amerikanischen Küste, bis es wieder nach Europa zurückkehrten musste – kein Staat war bereit, die Flüchtlinge aufzunehmen. Die Familie Dublon kam in Belgien unter. Nachdem die Wehrmacht in das Land einfiel, wurde einer nach dem anderen deportiert und ermordet – so wie ein Viertel aller abgewiesenen Passagiere. Als US-Präsident Trump einen Aufnahmestopp für Flüchtlinge verhängte, wies die Initiative Refugees Welcome auf das Schicksal der Flüchtlinge auf der St. Louis hin.

Rekonstruierte Fluchtwege

Persönliche Geschichten wie diese geben der an sich schon bestechenden Sachlage, die das Buch "Die Außenseiter – Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa" aufarbeitet, immer wieder ein neues i-Tüpfelchen. In kurzen Einschüben – Ther nennt sie "analytische Porträts" – gräbt er die Geschichte eines unbekannten spanischen Bürgerkriegsflüchtlings aus einem privaten Familienarchiv aus, beleuchtet prominente Flüchtlinge wie die Ex-US-Außenministerin Madeleine Albright und die jordanische Königin Rania, rekonstruiert die Wege der hugenottischen Familie Robillard de Champagne, die 1787 zu einer jahrelangen Odyssee aufbrach, genauso wie das kurze Leben von Alan Kurdi, dessen Leiche 2015 am Urlaubsstrand von Bodrum angeschwemmt wurde. Das Foto des Kleinkinds, dessen Familie vor dem IS floh, erzeugte ein gewaltiges mediales Echo.

Es ist der analytische Blick, der nie die Subjekte der Geschichte selbst aus den Augen verliert, der das Buch so lebendig macht. Philipp Ther, Historiker an der Uni Wien und bereits mit seinem Vorgängerbuch "Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent" 2015 mit dem Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet, legt in "Die Außenseiter" die Geschichte Europas als Kontinent der Flüchtlinge bloß: Von der Vertreibung der sephardischen Juden 1492 über Revolutionsflüchtlinge des 18. Jahrhunderts bis zum Kalten Krieg – Europa war immer in Bewegung.

Populismus und Abschottung

Allein die schieren Zahlen machen deutlich, dass Europa weitaus umfangreichere Flüchtlingsbewegungen gemeistert hat als die jüngste. Dabei war der Umgang mit Flüchtlingen nicht immer so konfliktbehaftet wie heute. Den Ursachen dafür und den Konsequenzen geht Ther auf den Grund. Er baut seine Fluchtgeschichte nicht chronologisch auf, sondern dröselt sie nach den Gründen für die Flucht auf: Religiöse Intoleranz, Nationalismus und politische Gründe. Am Schluss gibt er einen Überblick über historische Integrationsverläufe bis zur aktuellen "Flüchtlingskrise".

Ther macht kein Hehl aus seiner Sorge darüber, welche Folgen der aufsteigende Populismus, die Aufhetzung und die Abschottungspolitik in Europa auf eine ohnehin schon gespaltene Gesellschaft haben werden, und zeigt auf, dass Integration in der Geschichte immer die bessere Lösung war als der Versuch, Mauern zu bauen. Dabei bleibt Ther stets nüchtern, seziert die Verknüpfungen, mit denen die Historie immer mit dem Heute interagiert – und nimmt sich gern einmal ironische Seitenhiebe heraus. Ein wunderbares Lesestück über Europa, so spannend und erhellend, wie ein Geschichtsbuch nur sein kann. (Karin Krichmayr, 15.12.2017)

Philipp Ther: "Die Außenseiter. Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa". € 26,80 / 436 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2017

Ein Interview mit Philipp Ther finden Sie hier.

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Foto: Suhrkamp Verlag

Was das Tragen von Unterhosen bewirkt hat

Der deutsche Biologe und Medizinhistoriker Manfred Vasold widmet sich in seiner sozialgeschichtlichen Betrachtung der Neuzeit dem Alltag der einfachen Leute – und zeigt die drastischen Auswirkungen von vermeintlich unbedeutenden Dingen wie Unterhosen, Spiegeln oder Zigaretten.

Manfred Vasold stellt gerne Fragen. Die Macher der Geschichte interessieren ihn dabei aber nur wenig. Sie sind allenfalls hilfreich als erklärendes Pendant für den unbekannten Rest. Etwa: Warum arme Menschen kleiner waren als Angehörige der Oberschicht. Welche Krankheiten die industrielle Revolution hervorbrachte. Welche Bedeutung die zunehmende Verbreitung der Unterhose in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte. Oder, ob sich damals schon jemand Gedanken über den Klimawandel gemacht hat. Sein Standpunkt: Der Mensch ist das Produkt seiner Vergangenheit. Nur durch den Blick in den "Rückspiegel" können wir unsere gegenwärtige Lebensweise verstehen.

"Seit den Anfängen der Industrialisierung in Deutschland sind noch keine 200 Jahre vergangen. Die Lebensumstände haben sich seither wohl mehr verändert als in den tausend Jahren davor", heißt es in der Einleitung von "Hunger, Rauchen, Ungeziefer". Vasold konzentriert sich in seiner Analyse dennoch nicht auf die großen Würfe der Technologie- und Medizingeschichte, er spürt die gesellschaftlichen Veränderung über vermeintliche Nebenschauplätze auf. Die Geschichte der Unterhose zählt für ihn dazu. Bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts war sie ein Kleidungsstück, das allenfalls die intime Zone der feinen Damen und Herren bedeckte. Das einfache Volk trug nichts darunter.

Das Studium von Krankenhaus- und Militärakten zeigte: Das wichtigste Kleidungsstück war das Hemd. Bei Männern reichte das lange Hemd weit hinab, daher stammt auch noch die Redensart "sich einen Fleck ins Hemd machen". In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts änderte sich das – die Unterhose wurde zum leistbaren Massenprodukt und ein wirksamer Schutz gegen Läuse, Flöhe und andere Parasiten.

Neue Probleme

Die zunehmende Industrialisierung sorgte aber auch für neue gesundheitliche Probleme. In einem eigenen Kapitel widmet sich Vasold Berufskrankheiten wie der Atrophie, die durch das Hantieren mit rotem Phosphor für die Zündholzerzeugung hervorgerufen wurde. Zudem kam es zu einer rapiden Zunahme von Quecksilbervergiftungen, da das toxische Element für die Spiegelglasproduktion benötigt wurde.

Am Ende der medizinhistorischen Betrachtung steht der Kampf um den blauen Dunst. Das Rauchen von Tabak sorgte von Anfang an für Diskussionen in der Alten Welt, resümiert Vasold. Was dem Qualmen trotzdem zum Siegeszug verhalf: Die Überzeugung, dass "Tabak die Nerven beruhigt, und das konnten die Soldaten brauchen. Tabakgenuß dämpft zudem den Hunger, und an der Front dämpfte der Tabakqualm außerdem die Verwesungsgerüche."

Auch die Diskussion um die gesundheitlichen Folgen ist nicht neu: Bereits 1928 vermutete der Chemnitzer Arzt Ernst Schönherr, dass der Anstieg von Lungenkrebserkrankungen durch die neue Sucht hervorgerufen wird. Ohne Erfolg: In den 1930er-Jahren zählte Deutschland zu den weltweit größten Tabakimporteuren. Vier von fünf Männern rauchten, im Schnitt 12,5 Zigaretten pro Tag.

Was schade ist: Dem Autor gelingt es nicht, die Fäden der einzelnen Kapitel zu einem Strang zusammenzuführen. Eine empfehlenswerte und spannende Lektüre sind die Schlaglichter auf die unterschiedlichen Facetten des industriellen Zeitalters aber allemal. (Günther Brandstetter, 14.12.2017)

Manfred Vashold: "Hunger, Rauchen, Ungeziefer. Eine Sozialgeschichte des Alltags in der Neuzeit". € 29,90 / 424 Seiten. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016

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Geschichte einer Fernbeziehung mit Aliens

Der Physiker und Komiker Ben Miller beschreibt die Suche nach intelligentem Leben im All – und macht dabei einen Streifzug durch die Sternstunden der Wissenschaft

Als "Kicherfaktor" bezeichnet Ben Miller das Unbehagen, das viele Menschen erfasst, wenn es darum geht, über die Suche nach außerirdischer Intelligenz zu sprechen. Zu sehr haben angebliche Ufo-Sichtungen und dystopische Science-Fiction-Filme die Suche nach Aliens in ein pseudowissenschaftliches Schmuddeleck gerückt, wodurch es oft noch immer schwerfällt, das Thema als höchst relevantes Forschungsgebiet zu rechtfertigen. Dass er selbst davon überzeugt ist, dass es sich bei der heutigen Suche nach Leben im All um "eine der unglaublichsten Revolutionen in der Geschichte der Wissenschaft" handelt, räumt Ben Miller ohne Umschweife ein.

In seinem Buch "Anybody out there? Die faszinierende Suche nach außerirdischem Leben" liefert Miller umfassend fundierte Antworten auf die Fragen, was wir denn nun wirklich wissen über mögliches Leben in den Weiten des Universums, wann es wohl so weit sein könnte, dass wir auf intelligente Lebensformen stoßen, wie wir mit ihnen in Kontakt treten und wie sie aussehen könnten. Weil Ben Miller nicht nur promovierter Physiker ist, sondern auch ein bekannter Komiker und Schauspieler ("Johnny English", "Doctor Who"), gerät das ganze Unterfangen auch ziemlich kurzweilig.

Radiosignale und Exoplaneten

In kurzen Kapitelhappen serviert Miller einen Überblick über die Jagd nach Außerirdischen bis heute (inklusive einer Kulturgeschichte der Ufo-Sichtungen). Weil sich das Fremde oft ganz nah befindet, widmet Miller der Entstehung des Lebens auf der Erde einen großen Teil des Buches – schließlich kommen auch auf unserem Planeten Lebewesen mit den unglaublichsten und extremsten Bedingungen zurecht und geben Aufschluss darüber, unter welchen Bedingungen sich auch anderswo lebensfähige Organismen entwickeln könnten.

Er beschreibt, wie Astronomen seit den 1960er-Jahren versuchen, Radiosignale aus dem All abzufangen und mit immer leistungsstärkeren Teleskopen Exoplaneten auf die Schliche zu kommen. Er rekonstruiert die Entstehung des Universums genauso wie die von Prokaryoten und Eukaryoten. Und er befasst sich mit der Frage, wie man eine Botschaft von Außerirdischen entziffern könnte.

Rasante Reise durchs Universum

Man sieht: Es geht rasant dahin. Um den vielen Unbekannten bei der Suche nach außerirdischem Leben auf die Spur zu kommen, trifft Miller Menschen wie die ehemalige Vorsitzende des Wiener UN-Büros für Weltraumfragen, Mazlan Othman, die auf einer Konferenz mehr spaßeshalber als Alien-Ansprechpartnerin der Menschheit gekürt wurde. Er spricht außerdem mit Wissenschaftern wie mit Jill Tarter vom renommierten SETI-Institut (Search for Extraterrestrial Intelligence) im kalifornischen Mountain View, die als Vorbild für die von Jodie Foster gespielte Forscherin im Film "Contact" diente.

Miller schreckt aber auch nicht vor der Theorie zurück: Grundlegende Konzepte wie die Drake-Gleichung, die Hauptsätze der Thermodynamik und die Boltzmann-Konstante werden so verständlich erklärt, dass sie auch für Laien gut nachvollziehbar sind.

In diesem mitunter etwas verwirrenden Strudel aus spannenden Anekdoten, Wissenschaftsgeschichte und Forschungssternstunden geraten aber nie die ganz großen existenziellen Fragen außer Acht. Nämlich was ein möglicher Kontakt bewirken würde – und letztlich: Was es bedeutet, Mensch zu sein. Eine Geschichte einer Fernbeziehung der besonderen Art, mit "Kicherfaktor" im absolut positiven Sinn. (Karin Krichmayr, 13.12.2017)

Ben Miller: "Anybody out there? Die faszinierende Suche nach außerirdischem Leben". € 10,30 / 368 Seiten. Penguin Verlag, München 2017

Mehr zum Thema finden Sie in unserem neuesten Magazin "Forschung" und hier.

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Die französische Philosophin Hélène Cixous schreibt in "Gespräch mit dem Esel" über das Schreiben selbst – es ist eine poetisch-philosophische Annäherung an die Verbindung von Widerstand und Schreiben

"Ich schreibe nicht um zu behalten. Ich schreibe um zu fühlen. Ich schreibe um den Körper des Augenblicks mit den Wortspitzen zu berühren" – es sind Einblicke wie diese in ihr Schreiben, die die französische Philosophin und Schriftstellerin Hélène Cixous ihren Leserinnen und Lesern in "Gespräch mit dem Esel – Blind Schreiben" erlaubt. Wie in keinem anderen Text betont sie darin die Verbindung von Widerstand und Schreiben. Im Schreiben geht es Cixous um das Verborgene: "Ich will nicht das sehen was gezeigt ist. Ich will das sehen was geheim ist. Was zwischen dem Sichtbaren versteckt ist."

Um das zu erreichen, bedarf es etwas, das Cixous "blindes Schreiben" nennt. Damit sie schreiben kann, muss Cixous "dem grobgrellen Tageslicht entkommen das mich bei den Augen nimmt, mir die Augen nimmt und sie abfüllt mit groben, rohen Ansichten". So darf es wenig überraschen, dass Cixous in der Nacht schreibt, nur in der Nacht schreiben kann – ist die Nacht doch "die wunderreichere Hälfte meines Lebens".

Tränen der Trauer und der Freude

Was an diesen Passagen auch sichtbar wird, ist, wie Cixous mit den Regeln der Interpunktion bricht. Beispielsweise fehlen etliche Beistriche dort, wo sie herkömmlich gesetzt werden. Damit "verflüssigt sie und öffnet so Sinn und Bedeutung, setzt andere Akzente – zum Teil offene Akzente; denn dort, wo keine Kommata strukturieren, muss der Text jedes Mal im Lesen neu 'artikuliert' werden", schreiben die Herausgeberinnen Esther Hutfless und Elisabeth Schäfer.

Um den Text zu öffnen und zu "verflüssigen", wurden zudem gezeichnete Tränen zwischen die Worte gesetzt. Es sind Tränen der Trauer über einen Verlust, aber auch Freudentränen, die einen Neuanfang begleiten – es sind Markierungen im Text, die das Sagbare übersteigen. Cixous: "The most beautiful things cannot be written, unfortunately. Fortunately. We would have to be able to write with our eyes, with wild eyes, with the tears of our eyes, with the frenzy of a gaze, with the skin of our hands."

Cixous' Text, der von Claudia Simmer ins Deutsche übersetzt worden ist, wird in diesem Büchlein von zwei Supplementen der Wiener Philosophinnen Esther Hutfless und Elisabeth Schäfer sowie von Gertrude Postl, Professorin für Philosophie und Women’s and Gender Studies am Suffolk County Community College in Selden, New York, begleitet. Insgesamt ist ein vielschichtiger, poetischer Band entstanden, der einmalige Einblicke in das Schreiben einer außergewöhnlichen Denkerin bietet. (Tanja Traxler, 12.12.2017)

Hélène Cixous: "Gespräch mit dem Esel – Blind schreiben". Hg. von Esther Hutfless und Elisabeth Schäfer. € 7 / 126 Seiten. Zaglossus, Wien 2017

Hinweis: Am 12. 12. bringt Radio Orange um 18 Uhr eine Ausgabe der Wissenschaftssendung "Superscience Me", in der u. a. die Philosophinnen Esther Hutfless und Elisabeth Schäfer zu Wort kommen: http://o94.at/radio/sendung/superscience-me/1462413/

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Die Geheimnisse der ältesten Kunstwerke Europas

Zwei Archäologen erzählen in einem großformatigen, üppig illustrierten Bildband die Geschichte jener Kunstwerke, die vor über 40.000 Jahren in den Eiszeithöhlen der Schwäbischen Alb angefertigt wurden

Die Venus von Willendorf, Österreichs berühmteste steinzeitliche Figurine, ist mit ihren rund 30.000 Jahren im Vergleich dazu geradezu jung. Die kleinen Figuren aus Mammutelfenbein, die man ab 1931 in den Eiszeithöhlen rund um Ulm in Südwestdeutschland fand, sind nämlich mindestens 10.000 Jahre älter: Sie gelten als die weltweit ältesten Funde figürlicher Kunst, hergestellt von modernen Menschen, die vor rund 43.000 Jahren Süddeutschland erreichten.

Doch diese Mini-Plastiken sind längst nicht alles, was man in den Höhlen der Schwäbischen Alb fand. Auch die ältesten Musikinstrumente – rund 40.000 Jahre alte Flöten, die aus Knochen von Geiern gefertigt wurden – stammen von dort. Allein aus der Höhle Hohler Fels konnte man mehr als 80.000 Steinwerkzeuge und fast 300 Schmuckstücke bergen.

Seit kurzem Unesco-Weltkulturerbe

Seit 2017 sind diese Höhlen Unesco-Weltkuturerbe. Und das war letztlich der Grund dafür, dass zwei der führenden Experten dieser Ausgrabungen – der US-deutsche Archäologe Nicholas Conard (Uni Tübingen) und sein Kollege Claus-Joachim Kind – in einem üppig illustrierten Bildband rekonstruieren, was es mit diesen ersten Kunstwerken Europas auf sich hat und unter welchen Umständen sie hergestellt wurden.

Zuvor wird dem Leser noch viel Kontext vermittelt: über die Menschwerdung, die eiszeitliche Umwelt, aber auch über die Grabungsgeschichte der Höhlen. Im Hauptteil stellt das Archäologenduo die wichtigsten Funde wissenschaftlich seriös und optisch sehr ansprechend vor: Die aus Elfenbein geschnitzte "Venus vom Hohle Fels" etwa, die zu den weltweit ältesten Darstellungen des menschlichen Körpers gehört, oder die lebensnahen Figürchen von Mammuts, Löwen oder Pferden.

Keine unseriösen Spekulationen

Die Fotos der Kunstwerke sind hochwertig. Zahlreiche eingestreute Exkurse, Karten und Zeichnungen ergänzen den gut verständlichen Text, der sich bei den großen Fragen aller Spekulation enthält: Wie diese Kunstwerke verwendet wurden und wozu sie diesen frühesten modernen Menschen in Süddeutschland dienten, wird wohl für immer ein Geheimnis bleiben. (Klaus Taschwer, 11.12.2017)

Nicholas J. Conard und Claus-Joachim Kind, "Als der Mensch die Kunst erfand. Eiszeithöhlen der Schwäbischen Alb". € 41,10 / 192 Seiten. Theiss, Darmstadt 2017

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Theiss

Eine mit 85 Jahren Verspätung veröffentlichte Dissertation

Die vorbildliche Edition von Marie Jahodas Abschlussarbeit gibt nicht nur bemerkenswerte Einblicke in die Wiener Lebensverhältnisse zwischen 1850 bis 1930, sondern würdigt auf gelungene Weise auch Leben und Werk der großen Sozialwissenschafterin

Dissertationen gehören im Normalfall nicht zu jenen Bücher, die man (sich) gerne als Geschenk macht. Im vorliegenden Fall liegt die Sache etwas anders. Es handelt sich nämlich zum einen um die 1932 approbierte und nun erstmals veröffentlichte Abschlussarbeit von Marie Jahoda (1907–2001), der wichtigsten Sozialpsychologin aus Österreich. Zum anderen bietet der vorbildlich gestaltete Band neben der Dissertation viele wertvolle Beiträge zu deren Kontextualisierung, aber auch zu Jahodas Leben und ihrem weiteren Werk.

Das leisten unter anderem ein Vorwort der Wissenschaftsforscherin Helga Nowotny, eine fast 100-seitige Jahoda-Biografie des Grazer Soziologen Christan Fleck, 40 Fotografien der Sozialpsychologin, aber auch ein Gedicht von Jahoda selbst ("Wir Frauen von heute"), die 1932 als eine der damals jüngsten Studentinnen der Uni Wien promovierte. Neben dem Studium war sie darüberhinaus Mutter einer kleinen Tochter, lebte in einer schwierigen Ehe mit Paul Lazarsfeld, absolvierte eine Ausbildung zur Volksschullehrerin und engagierte sich bei den Sozialdemokraten – um nur die wichtigeren ihrer extracurricularen Aktivitäten zu nennen.

52 lebensgeschichtliche Gespräche

Für die Dissertation, die den Titel "Anamnesen im Versorgungshaus" trägt und unter Einfluss der Psychologin Charlotte Bühler stand, protokollierte Marie Jahoda insgesamt 52 lebensgeschichtliche Gespräche mit Frauen und Männern, die in einem der Wiener Versorgungshäuser gelandet waren. So wurden damals jene Seniorenheime bezeichnet, in denen weitgehend mittellose Menschen betreut wurden.

Die Befragten waren entsprechend zwischen rund 60 und fast 90 Jahre alt, und die Protokolle ihrer Lebensgeschichten bieten bis heute einzigartige und unmittelbare Einblicke in die Arbeits- und Lebensverhältnisse in Wien zwischen 1850 und 1930. Die Aufzeichnungen machen dabei aber nicht nur die ökonomische Dynamik sowie die erhebliche räumliche und soziale Mobilität dieser Jahrzehnte greifbar, sie laden auch zu Vergleichen mit unseren eigenen Biografien der Jetztzeit ein.

Einlösung eines Credos

"Das Unsichtbare sichtbar machen" war Jahodas wissenschaftliches Credo, das sie bereits in dieser Arbeit, die gut ein Drittel des fast 400-seitigen Buchs ausmacht, eindrucksvoll einlöste. Nur ein Jahr nach der Promotion erschien dann bereits jene vor allem von ihr verfasste Studie, die sie weltberühmt machen sollte: "Die Arbeitslosen von Marienthal".

Weitere vier Jahre später wurde Jahoda vom Schuschnigg-Regime aus Österreich vertrieben und kam bis zu ihrem Tod im Jahr 2001 nur mehr für kurze Besuche zurück in ihre Heimat. Immerhin konnte die Wissenschafterin 66 Jahre nach ihrer Promotion noch das Ehrendoktorat der Uni Wien persönlich entgegennehmen.

Die aufwendig gestaltete Edition dieser Promotionsarbeit und die instruktiven Begleittexte kommen zwar etwas spät. Sie rufen aber umso nachdrücklicher in Erinnerung, welch vorbildliche Sozialwissenschafterin und einzigartige Persönlichkeit Marie Jahoda zeit ihres Lebens – und auch schon als sehr junge Forscherin – gewesen ist. (Klaus Taschwer, 10.12.2017)

Marie Jahoda, "Lebensgeschichtliche Protokolle der arbeitenden Klasse. Dissertation 1932". Mit einem Porträt über die Autorin von Christian Fleck. € 26,90 / 392 Seiten. StudienVerlag, Innsbruck 2017

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StudienVerlag

Gut erzählte Geschichten über exzentrische Physik-Genies

Richard von Schirach vermittelt Grundwissen der modernen Naturwissenschaften, indem er einige ihrer eigenwilligeren Protagonisten von Henry Cavendish (1731–1810) bis Robert Oppenheimer (1904–1967) anekdotenreich vorstellt

Im vorletzten Kapitel von Eric Hobsbawms modernem Klassiker "Zeitalter der Extreme", seinem famosen Überblick über das 20. Jahrhundert, steht ein Thema im Zentrum, das in ähnlichen historischen Darstellungen meist ausgespart wird: Unter dem Titel "Zauberer und Lehrlinge" analysiert der britische Historiker auf überaus lesenswerte Weise die Entwicklung und die Bedeutung der Naturwissenschaften im 20. Jahrhundert.

Grenzüberschreiter zwischen den "zwei Kulturen"

Hobsbawm ist bis heute eine der wenigen Ausnahmen von jener bedauernswerten Regel geblieben, dass sich die Vertreter der Geistes- und der Naturwissenschaften eher selten mit der jeweils anderen der "zwei Kulturen" beschäftigen. Ein anderer Vertreter dieser seltenen Spezies kultureller Grenzüberschreiter ist der studierte Sinologe Richard von Schirach, Onkel des Bestsellerautors Ferdinand von Schirach und jüngster Sohn des NS-Reichsstatthalters von Wien, dessen Geschichte er im Buch "Der Schatten meines Vaters" aufarbeitete.

Bereits vor fünf Jahren legte von Schirach mit "Die Nacht der Physiker" eine gut recherchierte Geschichte des deutschen Uranprojekts im Zweiten Weltkrieg vor und ging darin mit den beteiligten Forschern eher härter ins Gericht als sonst üblich. Sein neues Buch schließt in gewisser Weise daran an: Auch in "Der Mann, der die Erde wog" geht es vor allem um Physiker, die mit ihren "Entdeckungen die Welt veränderten", so der zweite Teil des Untertitels.

Etwas irreführender Titel

Der Titel selbst ist freilich etwas irreführend, denn die lesenswerte Annäherung an den exzentrischen Forscher Henry Cavendish, dem rund um 1800 auf geniale Weise die erste experimentelle Bestimmung der mittleren Dichte der Erde gelang, ist nur eines von zwölf Kapiteln des Buchs. In den anderen versammelt der mittlerweile 75-Jährige gelungene Porträts von zur Exzentrik neigenden Naturwissenschaftern, die vor allem zwischen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und dem Zweiten Weltkrieg aktiv waren.

"Sonderlinge in einer Irrenanstalt"

Ein Schwerpunkt liegt auf den Entwicklungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Einer der zentralen Schauplätze im zweiten Teil des Buchs ist die Villa Born in Göttingen, für von Schirach ein "magischer Ort wilden Denkens". Etwas weniger schmeichelnde Worte hatte Nobelpreisträger Max Delbrück für diese Gruppe der Wissenschafter um Max Born in den 1920er-Jahren. Delbrück sprach von den "brillanten Sonderlingen in einer Irrenanstalt".

Wenn man von Schirachs mit feiner Feder gezeichneten Porträts etwas zum Vorwurf machen möchte, dann wohl die Betonung der größeren und kleineren "Verrücktheiten" der Geistesgiganten. Zugleich hilft diese Annäherung über die oft schrulligen Persönlichkeiten der Genies, deren revolutionäre Erkenntnisse auch für Laien gut zugänglich zu machen.

Weniger bekannte Geistesgrößen

Neben der Darstellung von Allzeitgrößen wie Planck, Curie oder ganz zu Beginn Boltzmann porträtiert von Schirach aber auch einige Geistesgrößen, die nicht ganz so bekannt sind, wie etwa Lew Landau, der an der Entwicklung der sowjetischen Wasserstoffbombe beteiligt war, oder den aus Wien stammenden Friedrich Georg Houtermans, der unter Stalin drei Jahre Einzelhaft auch mit Hilfe von Primzahlrechnungen überlebte.

Eine der spannenden Beobachtungen in Eric Hobsbawms Kapitel über die Naturwissenschaften im 20. Jahrhundert ist die These, dass es keine andere Epoche gegeben habe, in der Forscher stärker politisiert gewesen wären und so sehr unter totalitären politischen Systemen zu leiden gehabt hätten, wie in den Jahrzehnten unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg. Gerade mit den Kapiteln über Houtermans und Landau liefert "Der Mann, der die Erde wog" treffliche Illustrationen dieser Behauptung. (Klaus Taschwer, 9.12.2017)

Richard von Schirach: "Der Mann, der die Erde wog. Geschichten von Menschen, deren Entdeckungen die Welt veränderten". € 22,70 / 416 Seiten. Bertelsmann, München 2017

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C. Bertelsmann

Eine philosophische Liebesverwirrung

Joakim Garff hat der einstigen Verlobten des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard ein Buch gewidmet – es ist die erste Biographie von Regine Olsen.

Sie trafen sich über Jahre hinweg beinahe jeden Tag. Es waren immer andere Orte in und rund um Kopenhagen. Wenn einer von ihnen seinen Weg änderte, tat dies auch der andere. Und so trafen sie sich wieder. Sie sprachen nie ein Wort miteinander, schrieben sich keine Briefe. Die intimsten Begegnungen waren in der Kirche. Wenn der Pfarrer die Messe hielt. Die Nähe, die Dunkelheit, die Intimität – als wäre es eine heimliche Hochzeitsmesse. Dass sie beinahe geheiratet hätten, lag da schon Jahre zurück.

Leserinnen und Lesern des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard (1813-1855) war seine einstige Verlobte Regine Olsen (1822-1904) seit langem ein Begriff. Zu viele Referenzen finden sich in dessen Werk, um die Relevanz, die Olsen für ihn hatte, überlesen zu können. Der Theologe und Kierkegaard-Experte Joakim Garff hat der Frau, um deren Hand Kierkegaard einst angehalten, die Verlobung mit ihr aber Monate später wieder aufgelöst hatte, nun die erste eigenständige Biographie gewidmet.

Als 15-Jährige lernte Olsen den um neun Jahre älteren Kierkegaard kennen – bereits die erste Begegnung hinterließ bei beiden einen tiefen Eindruck. Drei Jahre später verlobten sich die beiden. Dass Kierkegaard die Verlobung löste, hatte weniger damit zu tun, dass es ihm an Liebe zu Olsen mangelte, sondern er fühlte sich der Rolle des Ehemanns nicht gewachsen.

Olsen traf dieser Bruch enorm. Einige Jahre später heiratete sie aber ihren früheren Lehrer Johan Frederik Schlegel. Die täglichen, wortlosen Begegnungen mit Kierkegaard setzte sie dennoch fort. Diese nahmen erst dadurch ein jähes Ende, dass Schlegel eine Stelle in einer dänischen Kolonie in der Karibik annahm und mit seiner Frau dorthin übersiedelte. Als Olsen erst viele Jahre später wieder nach Dänemark zurückkehrte, war Kierkegaard bereits gestorben. Erst nach dem Tod ihres Mannes Schlegel, entschied sich Olsen, offen über die Beziehung zu ihrem prominenten einstigen Verlobten zu sprechen.

Durch Zufall gelangte Garff, der zuvor bereits eine vielbeachtete Biographie über Kierkegaard geschrieben hat, an über 100 Briefe von Regine Olsen, die bislang nicht bekannt gewesen waren. Das nun veröffentliche Buch "Kierkegaard’s Muse" zeichnet in einfühlsamer Weise die Lebensgeschichte einer Frau und ihren enormen Einfluss auf das Denken Kierkegaards nach.

Wie nebenbei erzählt Garff dabei auch einiges über die Philosophie selbst: Er relativiert das Bild, dass es sich dabei um eine Disziplin handelt, in der rein logische Deduktionen, völlig losgelöst von den leiblichen Erfahrungen in der Welt, vorgenommen werden. Ganz im Gegenteil wird die Philosophie hier als Form des Denkens dargestellt, die aufs Engste mit dem Leben selbst verbunden ist. (Tanja Traxler, 8.12.2017)

Joakim Garff: "Kierkegaard’s Muse – The Mystery of Regine Olsen", € 19,87 / 314 Seiten. Princeton University Press, Princeton 2017

Foto: Princeton University Press

Verborgene Verbindungen aller Lebewesen

Peter Wohlleben betrachtet den Zusammenhang zwischen Fischen, Bäumen, Pilzen und Wolken – und macht auch beim Menschen nicht halt.

Was haben Kraniche mit Schinken, Regenwürmer mit Wildschweinen oder Käfer mit Taubenfedern zu tun? Dass es innerhalb dieser Begriffsduos tatsächlich erstaunliche ökologische Zusammenhänge gibt, erklärt Peter Wohlleben in seinem neuesten Besteller auf anschauliche Weise.

Wildschweine und Hirsche waren zum Beispiel bis vor Kurzem kaum im Wald anzutreffen. Durch Wildfütterungen und andere Faktoren ist in den letzten Jahren jedoch ein regelrechter Zoo an Tieren entstanden, die sich liebend gerne vom Baumnachwuchs ernähren. Die hohen Zahlen der Schweine können aber durch eine zweite Futterquelle natürlich reguliert werden: Regenwürmer. Denn diese tragen mikroskopisch kleine Parasitenlarven von Lungenwürmern in sich, die Wildschweine beim Durchwühlen der Erde zu sich nehmen – mit anschließender Ansteckungsgefahr.

"Deutschlands bekanntester Förster" (ARD) bringt in "Das geheime Netzwerk der Natur" einmal mehr auch Biologie-Muffel dazu, über die verborgenen Fähigkeiten der Natur verblüfft zu sein.

Wohlleben landete bereits 2015 mit seinem Buch "Das geheime Leben der Bäume" einen Sensationserfolg, das bis heute auf der "Spiegel"-Bestsellerliste steht. Seine Beschreibung des "Wood Wide Web", ein Internet des Waldes, durch das Bäume miteinander kommunizieren können, machte ihn nicht nur in Deutschland, sondern mittlerweile weltweit bekannt. Ein Teil des Erfolgs ist wohl auch seiner Sprache geschuldet, die sowohl leicht verständlich, als auch einfühlsam ist.

Das gilt auch für sein neues Werk, in dem er Zusammenhänge in der Natur quer durch verschiedene Arten beschreibt – von Mikroorganismen bis Säugetieren. Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass junge Bäume quasi von ihrem "Mutterbaum" gestillt werden, weil sie selbst nicht an genug Licht kommen? Und dass Stürme und Brände im Wald ein Vorteil für Rehe sind? Denn durch die natürlichen Rodungen entstehen nämlich mehr Lichtungen und auf diesen können junge Bäume wachsen, die mehr Zugang zu Licht haben und deswegen mehr Zucker in den Blättern produzieren. Diese schmecken in Folge dem Waldbewohner Reh besser, was wiederum zu einer Reaktion der Bäume führt, die ungenießbare Salicylsäure produzieren.

Besonderes Augenmerk schenkt Wohlleben in seinem neuen Buch der Rolle des Menschen im "Netzwerk der Natur". Dieser zwinge die Umwelt seit dem Beginn der Landwirtschaft in ein Korsett und bringt dadurch die natürliche Balance durcheinander. In Zeiten des Klimawandels werden deshalb Gedanken über die Auswirkungen dieses Einflusses immer notwendiger.

Aber verstehen wir die komplexen Zusammenhänge der Natur überhaupt ausreichend, um auch richtige Schutzmaßnahmen treffen zu können?

Denn rettet man eine Art, vernachlässigt man automatisch eine andere, so Wohlleben, oder fügt dieser vielleicht sogar noch zusätzlichen Schaden zu. Und die meisten Arten (vor allem kleinere Lebewesen wie Pilze oder Mikroorganismen), seien noch nicht einmal entdeckt.

Dennoch bleibt Peter Wohlleben Optimist und glaubt an die verborgenen Kräfte der Natur, wenn er zum Beispiel davon erzählt, wie Bäume, die sich naturgemäß nicht bewegen können, innovative Anpassungen an Klimaveränderungen vornehmen.

Was aber sollen wir Menschen nun angesichts der dramatischen Veränderungen in der Natur unternehmen, um diese zu retten? Wohlleben glaubt stark an die Kraft des Nichts-Tuns. Denn wenn das Buch eine Botschaft hat, dann die: Man kann gar nicht genug Staunen über all die Zusammenhänge, Anpassungen und Reparaturmechanismen der Natur. (Katharina Kropshofer, 7.12.2017)

Peter Wohlleben, "Das geheime Netzwerk der Natur", € 20,60 / 224 Seiten. Ludwig Verlag, München 2017

Foto: LUDWIG/ Random House

Das etwas andere "Guinness-Büchlein" der Natur-Superlative

Zwei deutsche Autoren haben alle möglichen Bestleistungen aus dem Reich der belebten Natur zusammengetragen und unterhaltsam aufbereitet

Das Guinness-Buch der Rekorde gibt es seit mittlerweile 62 Jahren und ist zu einer eigenen kleinen Firma mit 50 Mitarbeitern und einem Museum in Hollywood geworden. Die Idee zum Rekord-Buch kam Sir Hugh Beaver, dem damaligen Geschäftsführer der irischen Brauerei, angeblich irgendwann Anfang der 1950er-Jahre nach einer erfolglosen Jagd auf Goldregenpfeifer.

Sir Hugh wollte sich rehabilitieren und begann, Recherchen über die schnellsten Vögel der Welt anzustellen. Und dabei kam ihm angeblich die Idee, den Bierkonsum in den Pubs zusammen mit der Wettleidenschaft der Bierkonsumenten durch, voilà: ein Buch der Rekorde zu erhöhen.

Aberwitzige Bestleistungen

Heute werden im Guinness-Buch der Rekorde, das auch auf Deutsch "Guinness World Records" heißt, in möglichst schreiender Optik vor allem aberwitzige Bestleistungen von Menschen präsentiert, deren einziges Ziel es zu sein scheint, in dieses Buch aufgenommen zu werden. Wer hingegen nach Bestleistungen in der belebten Natur sucht (wie etwa dem schnellsten Vogel der Welt), ist beim optisch weitaus weniger opulenten Büchlein "Organismische Rekorde" der deutschen Sachbuchautoren Klaus Richarz und Bruno Kremer besser aufgehoben.

Was dem Taschenbuch an grellen Farben und aufwendiger grafischer Gestaltung fehlt, machen die beiden Autoren durch Fachkenntnis und unterhaltsame sowie anekdotenreiche Aufbereitung wett. Dabei geht es nicht nur um die üblichen und zum Teil altbekannten Rekordhalter im Tier- und Pflanzenreich (das schnellste und das größte Landwirbeltier, das mit dem längsten Hals...).

Auch Bakterien, Protisten und Pilze

In den ersten drei Kapiteln gibt es Bestleistungen aus dem Reich der Bakterien, der Protisten (Algen, Protozoen u.a.) und schließlich auch noch aus dem Reich der Pilze, die weder zu den Pflanzen noch zu den Tieren gehören. Auch hier mag dem naturkundigen Leser einiges schon bekannt sein, etwa der größte Pilz, ein 9 km2 großes Hallimaschmyzel in den USA. Aber wer hätte gewusst, dass der größte Pilzfruchtkörper einem Porling der Art Rigidioporus ulmarius gehört, der in den Royal Botanical Gardens bei London wächst und rund 300 Kilogramm wiegt?

Die Einträge sind im Schnitt rund eine Seite lang, zum Teil mit Schwarz-Weiß-Fotos illustriert und bieten seriöses Infotainment. Mit den gut recherchierten Informationen kann man ja womöglich das eine oder andere Mal im Biologieunterricht glänzen (sowohl als Lehrer wie als Schüler) oder in einem Pub bzw. bei einer Party als Besserwisser punkten.

Die schnellsten Vögel

Apropos: Der schnellste Vogel ist, wie die meisten hier vermutlich wissen, der Wanderfalke, der im Sturzflug bis zu 350 km/h erreichen kann. Beim Geradeausflug sind freilich auch einige Gänse- und Entenarten nicht zu unterschätzen: Mittelsänger, Eiderente oder Spornflügelgans können laut Richarz und Kremer mit bis zu 100 km/h Reisefluggeschwindigkeit unterwegs sein. Der Goldregenpfeifer wird in "Organismische Rekorde" hingegen nicht erwähnt. (Klaus Taschwer, 6.12.2017)

Klaus Richarz und Bruno P. Kremer, "Organismische Rekorde. Zwerge und Riesen – von den Bakterien bis zu den Wirbeltieren". € 15,40 / 305 Seiten. Springer, Heidelberg 2017

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Der "Macho-König" Testosteron wird vom Thron gestoßen

In "Testosterone Rex" räumt Autorin Cordelia Fine überzeugend und preisgekrönt mit Mythen über Maskulinität und Geschlechterunterschiede auf

Es beginnt mit einer interessanten, jedoch leicht kuriosen Anekdote: Bei einem Abendessen im Hause Fine wird über die Kastrierung des neuen Hundes gesprochen, woraufhin der ältere Sohn vor Begeisterung aufschreit: "Wir könnten doch seine Hoden zu einem Schlüsselanhänger machen!"

Auch wenn die Psychologin Cordelia Fine gegen das wunderliche Angebot ihres Sohnes, der sich nebenbei bemerkt für Taxidermie (also der Haltbarmachung von Tierkörpern und ihrer Teile) begeistert, Veto einlegte, fand sie in der familiären Szene eine gelungene Metapher für ihr neues Buch, das bisher nur auf Englisch erschienen ist.

In "Testosterone Rex" geht es nämlich um die scheinbar omnipräsenten Unterschiede zwischen den Geschlechtern, die einem schon einmal wie ein aufdringlicher Schlüsselanhänger erscheinen können.

Umstrittene Geschlechterdifferenzen

Auf ihre zynisch-witzige Art hatte die kanadisch-britische Wissenschaftsautorin bereits in früheren Büchern den Vergleich zwischen männlichen und weiblichen Gehirnen unter die Lupe genommen – mit dem Ergebnis, dass diese Unterschiede eigentlich gar nicht so offensichtlich sind.

In ihrem neuen Buch räumt sie nun mit dem Mythos auf, dass Männer aufgrund des Hormons Testosteron, das als Inbegriff von Maskulinität gilt, ein scheinbar typisch männliches Verhalten in Form von höherem Ehrgeiz und Risikofreude an den Tag legen würden. Solche Charaktereigenschaften seien auch genauso wenig eine Folge des XY-Hormons wie eine promiskuitive Lebensweise als unumgängliche Konsequenz der vermeintlichen Tatsache, dass Männer ihre Gene aufgrund ihrer Biologe so gut wie möglich verbreiten müssen.

Gegen evolutionsbiologische Erklärungen

Fines Buch, das 2017 den renommierten, jedoch kaum in einem Atemzug auszusprechenden "Royal Society Insight Investment Science Book Prize" gewann, rückt die wichtige Debatte über die überspitzten Unterschiede zwischen den Geschlechtern in den Fokus. Auch evolutionäre Argumente räumt "Testosterone Rex" mit viel Überzeugungskraft aus dem Weg und erklärt anhand zahlreicher Anekdoten, wieso der König Testosteron vom Thron gestoßen werden muss. (Katharina Kropshofer, 5.12.2017)

Cordelia Fine, "Testosterone Rex. Unmaking the Myths of our Gendered Minds". € 11,99 / 195 Seiten. Icon books, London 2017

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Foto: Icon Books

Schauplatz Exoplanet

Herausgeber Nick Gevers bat Science-Fiction-Autoren, neuere Erkenntnisse aus der Exoplanetenforschung in Erzählungen zu verarbeiten

Seit Anfang der 1990er Jahre die ersten extrasolaren Planeten entdeckt wurden, ist die Liste auf über 3.500 angewachsen. Und mit der Fülle an Entdeckungen kam die Erkenntnis, dass unser Sonnensystem nicht das einzige Modell ist, wie Planeten um einen Stern angeordnet sein können – ja, dass es möglicherweise nicht einmal ein besonders typisches Sternsystem ist.

So gibt es für Planetentypen, die in der Galaxis weit verbreitet zu sein scheinen, in unserem System keine Entsprechung – Stichwort "Heißer Jupiter". Wer hätte sich früher einen Planeten wie WASP-19b ausgemalt, größer als der Jupiter, aber nicht wie "unsere" Gasriesen jenseits der Gesteinsplaneten kreisend, sondern auf einer so engen Bahn um seinen Stern, dass er für einen Umlauf kaum 19 Stunden braucht?

Die Realität übertrifft selbst die Science Fiction, und deshalb hat der südafrikanische Herausgeber Nick Gevers 14 Autoren gebeten, Kurzgeschichten für eine Anthologie beizusteuern, die der Kreativität des Kosmos gerecht werden. SF-Fans dürfen sich darüber freuen, dass Gevers einige der besten Vertreter des Genres verpflichten konnte, von Ian MacLeod über Alastair Reynolds bis zu Lavie Tidhar.

Einige der Beitragenden führen selbst eine Doppelexistenz als SF-Autor und Wissenschafter. Gregory Benford etwa ist Astrophysiker und lässt in seiner Erzählung "Shadows of Eternity" eine Bibliothekarin der Zukunft virtuell in Daten eintauchen, die Sonden über extrasolare Planeten gesammelt haben.

Biologe Paul McAuley spitzt seine Erzählung "Life Signs" auf eine bittere Ironie zu: Während Astronomen die Atmosphären von Exoplaneten auf Lebensspuren untersuchen, werden ihre Teleskope blind, denn der Klimawandel als "Lebensspur" der Menschheit verhängt den Himmel mit Wolken. Nancy Kress schließlich beschreibt in "Canoe" eine Tauchexpedition auf einem fernen Eismond – ganz nach dem Vorbild von heute schon angedachten Missionen zum Saturnmond Enceladus.

Allerdings haben nicht alle Autoren hier so stark auf die Wissenschaft fokussiert und stattdessen lieber ihre schriftstellerische Freiheit genutzt: Von der Gesellschaftssatire über eine Liebesgeschichte bis zum Dokument des Weltuntergangs ist die Bandbreite der insgesamt hochklassigen Anthologie groß.

Und mit Ian Watson kam auch einer auf die fast schon zwangsläufige Idee, den Spieß umzudrehen. In seiner humorvollen "Journey to the Anomaly" bereist eine Abordnung Aliens ein Sternsystem, wie sie noch keines gesehen haben – nämlich unseres. Acht Planeten ziehen hier in fast perfekten Kreisen um ihren Stern, "so regelmäßig wie ein Uhrwerk". Das kann keine natürliche Anordnung sein, da müssen die Einheimischen doch mit irgendeiner Supertechnologie nachgeholfen haben ... (Jürgen Doppler, 4.12.2017)

Nick Gevers (Hrsg.), "Extrasolar", € 34 / 314 Seiten. PS Publishing, Hornsea 2017

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Foto: PS Publishing

Pfiffige Trainingsübungen für die grauen Zellen

Der deutsche Wissenschaftsjournalist Holger Dambeck hat 100 Mathematik-Rätsel zusammengetragen. Viel guter Stoff zum Knobeln, hier illustriert an einem Mitratebeispiel

Die Adventzeit mit all den Keksen und Weihnachtsfeiern stellt mitunter eine Herausforderung für Körper und Geist dar. Um den Körper in Schwung zu halten, braucht es in der kalten Jahreszeit etwas Überwindung und ist im Fitnessstudie auch nicht ganz billig.

Die 100 Hirntrainingsübungen, die der "Spiegel"-Wissenschaftsjournalist Holger Dambeck für angehende und bereits fortgeschrittene Denksportler zusammengestellt hat, sind im Vergleich dazu sehr günstig zu haben. Aber Vorsicht: Die gerade einmal 10 Euro teuren Knobeleien können einige Stunden Lebenszeit kosten!

Autor vom "Rätsel der Woche"

Dambeck ist beim "Spiegel" nicht nur Leiter der Online-Wissenschaftsredaktion, sondern dort auch für das wöchentliche "Rätsel der Woche" zuständig, das sich großer Beliebtheit erfreut. Aus diesem reichen Schatz logischer und mathematischer Aufgaben hat der ehemalige Mathematik-Olympionike und studierte Physiker im Taschenbuch "Kommen drei Logiker in eine Bar..." etliche der pfiffigsten kompiliert.

Die Schwierigkeit der Aufgaben schwankt zwischen ziemlich leicht und ziemlich unlösbar. Ein bisschen Hirnschmalz ist also vonnöten – und für die härteren Nüsse meist auch einige Zeit, die man mit einem Blick in den Lösungsteil aber gut abkürzen kann. Und vorab liefert Dambeck in der Einleitung noch eine hilfreiche Anleitung zum kreativen Problemlösen mit.

Ein olympisches Rätsel zum Testen

Um einen Eindruck von den Knobeleien zu geben, zitieren wir eines, das Dambeck selbst zitiert hat. Es handelt sich um ein Rätsel, das bei der Mathematik-Olympiade 2010 von Schülern der 10. Schulstufe zu lösen war, und zwar in der Regionalrunde in der zweiten von vier Stufen. Also eher anspruchsvoll. Aber testen Sie sich selbst:

Vier Personen – A, B, C und D – machen folgende je zwei Angaben, die zur Zahlenlösung führen:

A1: Die Zahl ist dreistellig.

A2: Das Produkt aller Ziffern ist 23.

B1: Die Zahl ist durch 37 teilbar.

B2: Die Zahl besteht aus drei gleichen Ziffern.

C1: Die Zahl ist durch 11 teilbar.

C2: Die Zahl endet mit null.

D1: Die Quersumme ist größer als 10.

D2: Die Ziffer der Hunderterstelle ist weder die größte noch die kleinste der Ziffern.

Um das Rätsel noch etwas zu verkomplizieren, erklären A, B, C und D, dass nur jeweils eine ihrer beiden Angaben richtig ist.

Wie also lauten die Lösungszahlen? Frohes Knobeln! (Klaus Taschwer, 3.12.2017)

Holger Dambeck, "Kommen drei Logiker in eine Bar... Die schönsten Mathe-Rätsel". € 10,30 / 240 Seiten. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017

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KiWi

Zweifel über biologische Grenzen unseres Körpers

Existenzialist oder nicht: Mark O'Connell regt in "Unsterblich sein" zum Denken und zum Lachen an

Vorhaben, das Problem des Sterbens zu lösen, würden die meisten womöglich nicht unbedingt als bescheiden bezeichnen. Transhumanisten arbeiten jedoch genau daran.

Als Journalist stellte sich der Ire Mark O’Connell Fragen nach der Motivation und Realisierbarkeit der transhumanistischen Ideen. Seine teils philosophischen, teils wissenschaftlichen Überlegungen und Erfahrungen verpackte er in dem Buch "Unsterblich sein: Reise in die Zukunft des Menschen".

Was aber ist Transhumanismus? Einfach gesagt, eine Denkrichtung, die mit Hilfe von Technologie mentale und physische Grenzen des menschlichen Körpers überwinden will. Utopisten, Cyborgs, Investitionen von Tech-Millionären oder Informationen unseres Gehirns, die im Streben nach Unsterblichkeit in eine Maschine hochgeladen werden sollen, sind alle Teil seiner einladenden Reise.

Mit großer Skepsis begegnet O'Connell so Mitgliedern der Bewegung wie Tim Cannon, der auf Grund zahlreicher Körpermodifikationen bereits als Cyborg bezeichnet wird, oder Zoltan Istvan, der mit seiner "Transhumanist Party" als unabhängiger Kandidat bei den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen angetreten ist.

Das Buch gleicht dabei einer großen Reportage, die oft mehr science als fiction zeigt und so ein recht unvoreingenommenes Bild auf Schlüsselcharaktere der Bewegung wirft.

Es fehlt jedoch auch nicht an persönlichen Noten, wenn er zum Beispiel von der Geburt seines Sohnes schreibt, die ihn zum ersten Mal die Zerbrechlichkeit des Lebens erkennen und hassen ließ – und auch zur Motivation für sein Debüt wurde, wie er in einem Interview mit der BBC erzählt.

Trotz des scheinbar düsteren Themas bringt einen das Buch mit witzig-skurrilen Szenen oft zum Schmunzeln: Sein Ausflug zur Alcor Life Extension Foundation (ein Ort unter der Leitung des Futuristen Max More, an dem Transhumanisten ihre Körper in flüssigem Stickstoff einfrieren lassen wollen) erinnert beispielsweise stark an Dr. Frank’n’furter’s Schloss in dem Kultklassiker "Rocky Horror Picture Show".

Mark O’Connells Reise ist gut für Existenzialisten. Aber auch für alle, die Existenzialismus hassen. Im BBC-Interview erwähnte er übrigens auch, dass der Gedanke, das eigene Leben durch Technologie zu verlängern, für ihn noch beängstigender sei als der Gedanke zu sterben. In diesem Sinne: Merry, dark christmas! (Katharina Kropshofer, 2.12.2017)

Mark O'Connell, "Unsterblich sein. Reise in die Zukunft des Menschen", € 24,70 / 299 Seiten. Carl Hanser Verlag, München 2017

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Foto: Carl Hanser Verlag

Wegweiser durch unser wundersames Universum

Stefan Klein macht in "Das All und das Nichts" die schwer vorstellbaren Erkenntnisse der modernen Physik auf elegante und anschauliche Weise zugänglich

Auf den ersten Blick sieht dieser Band wie das perfekte Weihnachtsbuch aus: schneeweißer Hintergrund, die Schrift darauf in Dunkelgold, dazu glänzende Kugeln in verschiedener Größe wie von einem Christbaum. Doch man soll bekanntlich Bücher nicht nach ihrem Cover beurteilen, und tatsächlich hat Stefan Kleins neues Werk herzlich wenig mit Weihnachten am Hut.

Der erfolgreichste deutschsprachige Wissenschaftsautor der vergangenen Jahre, der mit Büchern wie "Die Glücksformel" lesenswerte Bestseller schrieb, beschäftigt sich in seinem neuesten Werk "Das All und das Nichts" mit den ganz großen Fragen der Wissenschaft und nimmt den Leser in zehn kurzen Kapiteln auf überaus spannende Entdeckungsreisen bis zum Rande unserer Vorstellungskraft mit – und noch darüber hinaus.

Klein, der selbst promovierter Physiker ist, führt in zehn Kapitel anschaulich vor Augen, was die größten Forscher in den vergangenen gut 100 Jahren unter anderem über das Wesen der Zeit, über die Größe und Gestalt unseres Universums, den Urknall, das Licht und das Verhalten seiner Teilchen herausgefunden haben. Und diese Erkenntnisse machen vor allem eines deutlich: Dass es tatsächlich, wie schon Hamlet vermutete, mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt.

Gleich zu Beginn seiner mit knapp 240 Seiten schlanken Essaysammlung, die auch eine gut getarnte Einführung in die Relativitätstheorie, die Quantenphysik und die Kosmologie darstellt, befasst sich Klein freilich mit der Schönheit und ihrem Verhältnis zu den Wissenschaften. Anders als Edgar Allan Poe, der neue wissenschaftliche Erkenntnisse quasi für Fressfeindinnen der Poesie hielt, singt Klein ein Loblied auf vermeintliche Entzauberung der Welt und des Universums. Denn die Forschung führte nur zu noch mehr Fragen und zeige uns eine Wirklichkeit, die viel verrückter und phantastischer ist, als wir sie uns vorstellen können.

Diese Versprechen löst Klein im doppelten Sinn ein: Er liefert mit seinem Buch, das nicht von ungefähr den Untertitel "Von der Schönheit des Universums" trägt, zum einen wunderbar anschauliche Beschreibungen dieser Unvorstellbarkeiten im ganz Kleinen (etwa des Higgs-Teilchens) und ganz Großen (wie der Ausdehnung des Universums). Zum anderen tut er dies in einem eleganten, fast schon poetischen Stil, der die Kluft zwischen den zwei Kulturen von Naturwissenschaften und Literatur mühelos überbrückt.

Auch wenn das weiß-güldene Cover von "Das All und das Nichts" ein wenig in die Irre führt: Als Buchgeschenk unterm Christbaum ist es – nicht nur für naturwissenschaftlich Vorgebildete – allemal hervorragend geeignet. (Klaus Taschwer, 1.12.2017)

Stefan Klein, "Das All und das Nichts. Von der Schönheit des Universums", € 20,60 / 240 Seiten. S. Fischer, Frankfurt am Main 2017

Foto: S. Fischer