Regel Nummer eins des Gruselfilms: Geh nie in die finstere Höhle.

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Nachrichten vom Tod der deutschen Fernsehroutine sind übertrieben. Aber mit Dark könnte zumindest der Anfang vom Ende allzu klassischer, allzu schematischer TV-Produktionen in Deutschland eingeläutet sein. Die Netflix-Produktion (seit Freitag verfügbar) ist die erste, die der Streamingdienst zur Gänze in Deutschland produzieren und bei der er sich nicht lumpen ließ.

Die zehnteilige Mysteryserie (DER STANDARD sah die ersten drei Folgen vorab) spielt qualitativ in der internationalen Liga mit. Man merkt: In seine erste deutsche Produktion hat Netflix ordentlich hineingebuttert. Das "made in Germany" wird auch sehr gerne betont – wie das schon Konkurrent Amazon bei der Thrillerserie You Are Wanted gemacht hat.

Nichts Genaues weiß man nicht

Die Geschichte: In der Kleinstadt Winden verschwindet im Jahr 2019 ein Bursch spurlos. Dass das etwas mit einer ähnlichen Geschichte vor 33 Jahren zu tun haben könnte, will aber niemand so offen sagen. Überhaupt haben die Familien im Mittelpunkt der dicht gesponnenen, ineinandergreifenden Handlung eine ganze Reihe mehr oder weniger subtil angedeuteter düsterer Geheimnisse, irgendeine Rolle spielt auch das Atomkraftwerk nahe dem finsteren Wald.

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Und plötzlich geht's auch irgendwie auf Zeitreise, mit einem zumindest angedeuteten Portal im Wald. Aber da wie dort gilt: Nichts Genaues weiß man nicht. Und mit dem Erzählen und Ausleuchten lässt sich Serienmacher und Regisseur Baran bo Odar gut Zeit, lässt den Zuschauer Stück für Stück einen kleinen Blick in die Hintergrundgeschichte werfen, um dann aber doch wieder sehr viel im Dunkeln zu lassen. Und dann wieder zu einem anderen Geheimnis oder gar in eine andere Zeit zu hüpfen.

Netflix macht "richtig was auf"

"Wir sind es gewohnt, eindimensional zu erzählen – und das ist so langweilig!", sagt Karoline Eichhorn, die die Polizistin Charlotte Doppler spielt (die natürlich auch ein unbestimmtes dunkles Geheimnis hat), zum STANDARD. Dark sei "so viel mehr" als die klassische Kriminalgeschichte, wie man sie im deutschsprachigen Raum gewohnt ist. "Deswegen ist es ein großes Geschenk, dass wir auch einmal zeigen können, wir können's auch anders."

Oliver Masucci, bekannt etwa als Hitler in Er ist wieder da und in Dark Eichhorns emotional orientierungsloser Kollege, sieht es "ganz klar" als Manko, dass Spannendes im deutschen Fernsehen bisher nach Schema F lief: "Das ist halt unsere Sehgewohnheit, die haben wir jahrzehntelang so betrieben", doch mittlerweile werde anders erzählt – auch dank finanzstarker Streamingdienste, die Neues einfach einmal ausprobieren. Netflix mache "damit richtig was auf, die eröffnen einen ganz neuen Markt und damit auch einen neuen Wettbewerb", sagt Masucci.

Flackernde Taschenlampen, tote Schafe

So hochwertig Dark produziert und so spannend die Geschichte erzählt ist, den Preis für die originellsten Gruselstilmittel wird die Serie nicht gewinnen: Kinder mit Regenjacke im düsteren Wald, Taschenlampen, die plötzlich flackern, ein sinistrer Industriebetrieb in der vermeintlich idyllischen Kleinstadt, eine unerklärlich verendete Schafherde – und der alte Mann, der scheinbar wirres Zeug redet, aber tatsächlich als einziger Bescheid weiß. "Das sind Elemente, die sich durch alle Filme und Jahrzehnte hindurch wiederholen", glaubt Masucci

Zumindest im ersten Drittel der Serie spielen auch die 80er als Zeitsprungdestination eine Rolle – womit neben düsterem Wald und Parallelwelt samt Portal eine weitere von vielen Parallelen zum Mysteryerfolg Stranger Things zumindest im Ansatz besteht: In der US-Serie suchen die Kinder auch den verschollenen Freund im dunklen Wald – und das in den 80ern. "Die 80er waren ja auch eine unglaublich attraktive Zeit", sagt Eichhorn.

Platter Zeitreise-Mindfuck

Mit Dark hat Netflix ein solides Deutschland-Debüt hingelegt. Die Geschichte wird nach allen Regeln der Kunst erzählt, wenn auch der Zeitreise-Mindfuck mitunter ein bisschen platt daherkommt. Mit Eichhorn und Masucci, aber auch Jördis Triebel als überforderte Schuldirektorin hat man für die wichtigsten Rollen Schauspieler gefunden, die der Vielschichtigkeit ihrer Charaktere gerecht werden können – von allen Figuren kann man das allerdings nicht behaupten. Aber Dark ist spannend, gruselig und bingeable – und etwas Neues, zumindest im deutschsprachigen Raum. Das ist doch auch schon was. (Sebastian Fellner, 1.12.2017)