Gilles Simeoni (links) und Jean-Guy Talamoni können mit ihrem Kurs der Distanz zu Paris in Korsika punkten – und hoffen auf einen klaren Wahlsieg am Sonntag.

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Will die "Insel der Schönheit", wie sie sich selbst besingt, von Frankreich abdocken? Die Frage ist weniger abwegig denn je: Bei den erstmals abgehaltenen Territorialwahlen am Sonntag könnten die Separatisten die Mehrheit der Stimmen erzielen und damit ihren Vormarsch der letzten Jahre krönen. Schon vor einem Jahr war die Allianz aus "Femu a Corsica" (Schaffen wir Korsika) und der radikaleren "Corsica Libera" bei den Regionalwahlen überraschend auf mehr als ein Viertel der Stimmen gekommen. Dank Mehrheitswahlrecht führen deren Chefs Gilles Simeoni und Jean-Guy Talamoni heute die Inselregierung an. Bei den französischen Wahlen im Juni eroberten sie drei der vier korsischen Mandate in der Nationalversammlung.

Der neue Territorialrat soll ab dem 1. Jänner 2018 die Instanzen der beiden früheren Inseldepartements ersetzen – eine Folge der Gebietsreform des früheren Staatspräsidenten François Hollande. Den Separatisten wird ein klarer Sieg prophezeit. Die bürgerliche Rechte tritt dagegen gespalten an, die Sozialistische Partei nach einer Finanzaffäre gar nicht. Der rechtsextreme Front National hat als stramm "französische" Partei schlechte Karten, obwohl er eigentlich von der latenten Ausländerfeindlichkeit auf Korsika – 50.000 der 320.000 Einwohner sind Maghrebiner – profitieren sollte.

Im Windschatten Kataloniens

Die Separatisten, in Frankreich "nationalistes" genannt, feiern damit ein spektakuläres Comeback, nachdem sie jahrzehntelang als Amateure belächelt worden waren. Natürlich erhalten die Korsen Auftrieb durch die aktuellen Vorgänge in Katalonien. Vor allem aber hat sich die korsische Autonomie- und Unabhängigkeitsbewegung von Grund auf erneuert.

Das ungleiche Gespann aus dem jovialen Lebemann Simeoni und dem asketisch wirkenden Anwalt Talamoni hat viel Erfahrung im Umgang mit "Paris": Geschickt taktiert es zwischen Mäßigung und Maximalforderungen. Früher undenkbar, verlangen die beiden heute nachdrücklich die Einführung des Korsischen als zweite Amtssprache – oder wie im Baskenland: die Verlegung "politischer" Häftlinge vom Mutterland in ihre Region.

Keine Deals mit Terroristen

Simeoni und Talamoni wirkten aber auch in die Tiefe. Sie kappten die Bande zur terroristischen "Befreiungsfront" FLNC, aber auch – und vielleicht wichtiger – zu mächtigen Familienclans wie den Orsonis oder den Rocca Serras. Die Autonomisten prangern ferner die Immobilienspekulationen der Festlandfranzosen an, aber auch die Umtriebe salafistischer Moscheen.

Und munter provozieren sie den verhassten Zentralstaat, indem sie im Inselparlament bisweilen Korsisch sprechen. Frankreich, zu dem sie eigentlich gehören, nennt Talamoni ganz cool einen "befreundeten Staat". Das heißt mitnichten, dass er und Simeoni die staatliche Unabhängigkeit anstreben. Beide wissen, dass die arme, wirtschaftlich rückständige Insel ohne den Geldfluss vom Festland schlicht den Bankrott anmelden müsste.

Die korsischen Separatisten, Autonomisten und Nationalisten sind zudem sehr proeuropäisch eingestellt. Dahinter stecken zum Teil – wenig verwunderlich – auch pekuniäre Interessen, betrachtet die EU doch Korsika in vielen Belangen als periphere Region, die damit stärker gefördert wird. Berühmt sind etwa die Kuhmilchprämien, die viele korsische Landwirte vor Jahren eingestrichen hatten, ohne dass sie auch nur eine Kuh im Stall stehen hatten.

Sternenbanner statt Trikolore

Wenn Simeoni auf seinem Bürotisch den korsischen Maurenkopf und die Europasterne nebeneinanderstehen hat, dann in erster Linie, weil dies das Fehlen der französischen Trikolore auf diese Weise herausstreicht. Ob Unabhängigkeit oder nicht: Das Gefühl einer Entfremdung von der Hauptstadt war auf Korsika wohl noch nie so groß wie heute. Womit die Mittelmeerinsel durchaus in einem europäischen Trend liegt. (Stefan Brändle aus Paris, 3.12.2017)