Havanna in Paris bzw. Berlin: Sina Martens, Rocco Mylord, Aljoscha Stadelmann, Patrick Güldenberg und (oben) Stefanie Reinsperger.

Foto: Matthias Horn

Berlin – Auch aus nichtreligiöser Sicht hat die Erschaffung der Welt ihre theologischen Tücken. Sieben Schöpfungsstunden sind vergangen. Noch immer ist auf der eigentlich zierlichen Bühne des Berliner Ensembles kein Ende in Sicht. Frank Castorfs Schauspieler haben sich aus Paris, der Hauptstadt des Hochkapitalismus im 19. Jahrhundert, hundert Jahre nach vor, nach Kuba, gearbeitet. Genauer gesagt: nach Havanna.

Dort, während der letzten Jahren der Batista-Diktatur in den 1950er Jahren, unterhalten US-Stars aus Showbiz und Unterwelt großflächig ein fideles Dritte-Welt-Bordell. Und Regisseur Castorf hat den Inselstaat tatsächlich nachbauen lassen (Ausstattung: Aleksandar Denic). Eine Tabakfabrik im Kolonialstil erhebt sich aus den Niederungen eines Gemüsemarktes. Bei vorsichtiger Drehung des Wohnkomplexes blickt man durch einen Maschendrahtzaun in den Hinterhof der Supermacht. Hoch droben, über Hinterzimmern, in die vor allem eine Handkamera glotzt, thront ein Wärterhäuschen mit Sicherungskasten.

Guantanamo lässt grüßen

Guantanamo grüßt nach Paris hinüber. Gegeben wird Victor Hugos Romanbrocken "Les Miserables", ein Hauptwerk nicht der Schöpfungskritik, aber doch ein vernichtendes Pamphlet über den katastrophalen Stand der Verhältnisse, erstveröffentlicht 1862.

In diesem Zwitter aus herzhafter Kolportage und scharfer Kritik sitzt Hugo über das soziale Elend im nachrevolutionären Frankreich zu Gericht. Es gilt zu rekapitulieren: Zum Abschied von seiner geliebten Volksbühne gab Castorf vergangene Spielzeit Goethes "Faust". Dabei verlegte er aber Teile der Handlung in das naturalistische Paris Emile Zolas.

Jetzt, wo sein Stück vor allem auch in Paris angesiedelt ist, verschifft er seine zwölf tolldreisten Schauspieler der Einfachheit halber gleich nach Havanna. Sollte Castorf – jetzt ohne eigenes Theaterhaus – ein Schöpfungsgott sein, so herrscht in seiner Welt jedenfalls eine wundersame Vervielfachung der Population. Es überlagern sich die Schauplätze; dadurch geraten auch die Gedanken in Kollision. Es überschlagen sich die Ereignisse. Den Figuren kommen die Umrisse abhanden, oder, im Gegenteil: sie verdicken, verdoppeln und verdreifachen sich.

Jürgen Holtz als Hugo-Figur.
Foto: Matthias Horn

Dann sitzt der weise, kahle Jürgen Holtz als Hugo-Figur auf der Bühne und beginnt, über die Abwässer von Paris zu sinnieren. Diese Unmengen von Dünger, diese tausendfältige Kloakenwirtschaft! Einige Stunden später wird Holtz als mildtätiger Bischof wiederkehren. Er wird einen moralisch verzweifelten Ex-Häftling (Andreas Döhler), der seinem Quartiergeber das Tafelsilber raubt, als Menschenbruder verzeihend annehmen. In Frankreich ebenso wie in Kuba sind es jedoch vornehmlich die Frauen, die die Zeche für die Schwäche der menschlichen Natur zahlen.

Armut schändet

Hugo erzählt unter anderem vom Elend der Prostituierten Fantine (Valery Tscheplanowa). Die, schwindsüchtig, reißt sich die Eckzähne aus dem Mund und verschenkt ihr Haupthaar, nur um den perversen Wünschen eines Freiers zu willfahren. Armut schändet, und sie schneidet ins Fleisch derer, die ihr – angeblich naturgegeben – ausgeliefert sind. Happen werden auch aus dem Fleisch der Romanhandlung geschnitten. Wie immer bringt Castorf seine Darstellungsanarchisten dazu, sich gegen das über sie (als Figuren) verhängte Schicksal wüst aufzulehnen. Sie sprechen dann in dadaistischen Zungen, oder rezitieren seitenlange Ausschnitte aus Heiner Müllers karibischem Lehrstück "Der Auftrag".

Wie alle großen Schöpfer hat auch Frank Castorf eine Welt voll mit Leerlauf erschaffen. Dann sitzt ein übellauniger Polizeiagent namens Javert (Wolfgang Michael) gefühlte Ewigkeiten lang am Schreibtisch und zerredet Sätze über die unbeholfene Menschennatur zu Brei. Oder eine Familie von Gastwirten und Leichenfledderern (u.a. mit Stefanie Reinsperger) gerät untereinander in Rage. Die Tobsucht des Schauspielers kann eine Produktivkraft sein. Reinsperger, Österreichs Geschenk an das Berliner Ensemble, walzt als ekstatische Wirtin jeden Einwand platt.

Thelma Buabeng (l.) und Sina Martens
Foto: Matthias Horn

Es verrinnen die Stunden. Immer häufiger lappt der Roman "Drei traurige Tiger" (1975) des Kubaners Guillermo Cabrera Infante in den anderen, um so vieles älteren von Victor Hugo, oder es ist umgekehrt. Man hat, überhaupt nach 24 Uhr, allen Grund, sich zu fragen: Wache ich, oder träume ich? Die Kamera vergrößert die Gesichter, und man meint, ein Heer von Wiederauferstandenen beim Possenreißen zuzusehen. Auch für diesen paradoxen Effekt bürgt Castorfs Theater: Es belebt tot geglaubtes Papier. Es verhilft Prosafiguren zum Leben, indem die Schauspieler zeigen, dass sie nur spielen. Aber eben so, als hätten sie das Theater in der Sekunde neu erfunden.

Gott ist verzogen

Und so strauchelt Hugos Pariser Polizist irgendwann, während der achten Stunde, durch ein Havanna, in dem die alten Bakelittelefone läuten. Gott ist nicht verreist, aber er ist von der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz weitergezogen in das nahe BE. Die Szene läuft, und plötzlich gehen auf der Bühne die Lichter aus. Sieben Schöpfungsstunden sind vergangen. Das Publikum sah, dass es gut war. Es erlebte bei der Premiere am Freitag einen entspannten Frank Castorf an neuer Wirkungsstätte und ein im Applaus zu recht badendes Ensemble. (3.12.2017)