Bettina Kerl ist Initiatorin des unliebsamen Asylwerberheims.

Foto: Alexi Pelekanos

St. Pölten – Die Bewohner einer österreichischen Kleinstadt möchten ein barrierefreies Sportzentrum errichten, um Turnen für alle zu gewährleisten. Eine feine Sache, denkt man, doch die Sportanlage soll nirgends anders errichtet werden als am Standort des derzeitigen Flüchtlingsheims. Man schützt also Mitmenschlichkeit vor, um an anderer Stelle Ablehnung und Ausgrenzung praktizieren zu können.

Auf diesem moralischen Widerspruch, der heute in der Mitte vieler "christlicher" Gesellschaften (mit und ohne Einwanderungserfahrung) klafft, haben Regisseur Árpád Schilling und Koautorin Éva Zabezsinszkij ihr aktuelles Stück aufgebaut (Dramaturgie und Übersetzung: Anna Lengyel). Die aufgeklärten, linksliberalen Protagonisten in Erleichterung legen nämlich in Wahrheit keinerlei Wert darauf, auf gehandicapte Menschen (sie nennen sie unversehens "Krüppel") unvoreingenommen zuzugehen.

Schauplatz Familie

Schauplatz dieses gesellschaftlichen Konflikts ist eine gut situierte Familie: Die Mutter (Bettina Kerl) ist Bürgermeisterstellvertreterin und engagierte Initiatorin des Asylwerberheims, der Vater ist ein Schriftsteller mit Schreibblockade (Michael Scherff), die Tochter Studentin (Cathrine Dumont) und Opa ein Kapitalist im Trachtenjanker (Helmut Wiesinger). Viele Lügen halten ihr schönes bürgerliches Leben aufrecht. Man übergießt diese wahlweise mit kaltgepresstem Olivenöl oder Kaffee aus der italienischen Espressokanne.

So ein Leben geht ständig auf Kosten anderer – und sie bemerken es gar nicht. Schilling/Zabezsinszkij dringen wie in einem Thriller immer weiter hinter die augenscheinlichen Motive der Figuren. Während am Ende der Dichter endlich wieder eine Idee für einen Roman hat und die Mutter mit dem Flüchtlingsheim ihre Karriere vorangetrieben haben wird, geht es nicht nur den Asylwerbern an den Kragen, sondern es geht auch ein junger Mann (Tim Breyvogel) vor die Hunde, der aufgrund seiner seit einem Unfall deformierten Beine höflich, aber bestimmt von allen ausgegrenzt wird. Die Crux: Verursacher des Unfalls vor 23 Jahren war der Schriftsteller, er beging damals Fahrerflucht.

Ein Stück des Jahres

Dieses intelligent konstruierte, schlanke Dialogstück ist so etwas wie das Stück zur Stunde, da "christliche Werte" wieder gern im Mund geführt werden, bizarrerweise als Instrument zur Abgrenzung. Wie die sachlich-kühl montierten Filme Rainer Werner Fassbinders (und ihre zentrale Behauptung: Das Private ist politisch) legt Erleichterung ebenso mühelos zwischen einer Handvoll Leuten sämtliche Bruchlinien frei, die unser Zusammenleben heute wieder verstärkt durchziehen, und Schuld- bzw. Verantwortungszusammenhänge offen.

Dazu braucht es bei der Uraufführung am Landestheater Niederösterreich kaum mehr als einen mehrmals neu gedeckten Tisch und ein paar Bierkisten, die geräuschvoll über die bis weit nach hinten leergeräumte Bühne schlittern (visuelles Konzept: Schilling). Das Probenkonzept des in seiner Heimat Ungarn übrigens als Staatsfeind gebrandmarkten Regisseurs Árpád Schilling (der STANDARD berichtete) ging voll auf: Scharfe Schauspielerarbeit, die Szenen knistern, und sie führen immer wieder zu Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Dieses scharfsinnige Gesellschaftsdrama könnte ein Stück des Jahres werden. (Margarete Affenzeller, 5.12.2017)