Die Gegend um die Place Pigalle, einst das Reich der Prostituierten, Zuhälter und Glücksspieler, ist heutzutage das angesagteste Viertel der französischen Hauptstadt. Wahrscheinlich deshalb, weil das Anrüchige hier noch immer spürbar ist. Im ebenso angesagten Hotel Amour lächelt einem bereits am Eingang die Statue einer schwarz glänzenden Micky Maus mit erigiertem Riesenpenis entgegen.

André Saraiva tänzelt durch sein wie ein Bienenstock summendes Restaurant. Sein Blick überfliegt das rege Treiben konzentriert, um sicherzugehen, dass alles in bester Ordnung ist, bevor er sich auf die rote Lederbank setzt. Ein zierlicher Mann in dunkelblauem Sweatshirt, engen Jeans und Cowboy-Boots. Er spricht mit starkem französischem Akzent und ist sehr charmant. Im November 2015 eröffnete er sein zweites Hotel: Grand Amour.

Künstler, Nachtvogel, Networker und Hotelier: Saraivas Nacht scheint mehr Stunden zu haben als die Nächte anderer.
Foto: Olivier Zahm

STANDARD: Bekannt wurden Sie als Graffitikünstler und für Ihre legendären Partys. Wie kam es, dass Sie zum Hotelier wurden?

André Saraiva: Meine Freunde und ich vermissten einfach einen netten, coolen Platz zum Wohnen und einen Platz zum Schlafen nach Partynächten. Irgendwann war es ein natürlicher Schritt, ein Hotel zu eröffnen.

STANDARD: Sind Sie noch immer so nachtaktiv?

Saraiva: Ich mag die Nacht. Sie gibt mir Freiheit. In der Nacht kann man vieles tun, das sonst nicht möglich wäre: Es ist die Zeit für meine Graffiti, Raves und Konzerte. Die Nacht steht für alles, was sich vom Mainstream abhebt. Diese Dinge wirken zusammen, dadurch kann viel entstehen. Das Nachtleben ist Teil der Kunst.

STANDARD: Haben Sie selbst ein Lieblingshotel?

Saraiva: Ich liebe dieses, mein erstes Hotel Amour, da ich hier so viele Jahre verbracht und gelebt habe. Hier sind die meisten Ideen entstanden. Doch im Moment braucht das Grand Amour meine volle Aufmerksamkeit. Es ist doppelt so groß mit 44 Zimmern, daher verbringe ich jetzt die meiste Zeit dort.

Wo der Mix wohnt: Impressionen aus den angesagten Pariser Hotels von André Saraiva. Gewöhnlich ist anders.
Foto: Philippe Charlot
Foto: Philippe Charlot
Foto: Philippe Charlot

STANDARD: Wo wohnen Sie selbst, wenn Sie reisen?

Saraiva: Immer an denselben Plätzen: in New York in meiner Wohnung – einem Studio mit einer Matratze auf dem Boden -, in Portugal in meinem Fischerhäuschen, in Los Angeles im Chateau Marmont, in Tokio im Grand Hyatt, in Südfrankreich im La Colombe d'Or, in Stockholm im Hotel Esplanade und in Paris in meinem Grand Amour.

STANDARD: Kann ein Hotel ein Zuhause ersetzen?

Saraiva: Nichts kann dein eigenes Zuhause ersetzen. Wenn man reist, will man ein bisschen Abenteuer und Magie erleben. Ein Hotel sollte besser sein als dein Zuhause. Zumindest für ein paar Tage.

STANDARD: Worin bestand für Sie die größte Schwierigkeit, als Sie Ihr erstes Hotel konzipiert haben?

Saraiva: Nichts ist einfach, wenn man ein Hotel plant. Für mich war es Neuland. Es steckt sehr viel Arbeit darin, Konzentration, Instinkt und Pflege. Die Liebe zum Detail ist wesentlich. Wenn ich eine Zeichnung oder ein Bild male, ist das ein ähnlicher Prozess. Das Resultat muss in sich stimmig sein. Bei meinen Hotels denke ich an ein Gesamtkunstwerk oder an eine Installation, in der Menschen wohnen können. Doch die Gäste sollten es als mühelos empfinden.

STANDARD: Was ist das Wichtigste an einem Hotel?

Saraiva: Ach, es gibt so Grundvoraussetzungen wie makellose Sauberkeit, sehr gute Bedienung, die beste Bettwäsche. Eine gute Beleuchtung ist mir besonders wichtig. Ebenso von Bedeutung ist es, das gewisse Etwas zu schaffen, das ein Hotel einzigartig macht. Man muss ihm Seele einhauchen.

STANDARD: Wie machen Sie das?

Saraiva: Viele meiner Freunde designten Zimmer oder kreierten Kunstwerke für uns. Künstler wie M/M Paris, Jean-Philipp Delhomme, Alexandre de Betak, Sophie Calle, Pierre Le -Tan, Glenn O' Brien, Olivier Zahm, Terry Richardson und Mark Newson. Auch mit Tom Sachs und Carsten Höller arbeiten wir im Moment an Projekten. Jeder Einzelne von ihnen legt Wert auf unterschiedliche Dinge und macht auf Verschiedenstes aufmerksam. Für mich ist das immer sehr interessant und lehrreich. Die Arbeiten an unseren Hotels sind ein nie endender Prozess. Nichts ist jemals fertig.

STANDARD: Wie entstand die Verbindung zu den diversen Künstlern?

Saraiva: Die meisten sind gute alte Freunde. Wir lernten uns an den verschiedensten Plätzen auf der ganzen Welt kennen. Ich reise viel. Bevor meine Hotels entstanden, hatte ich diverse Kunstwerke dieser Leute in meinen Wohnungen. Als ich diese aufgab, hängte ich sie in die Hotelzimmer, die Lobbys, die Restaurants und die Bars. Über die Jahre sammeln ich und mein Partner Thierry (Anm. Thierry Costes ist der Besitzer des Pariser Hotel Costes) auch ausgefallene Möbelstücke, Skulpturen und Objekte, die Teil des Hotel Mobiliars wurden.

STANDARD: Sind die Fotografien von Guy Bourdin und Helmut Newton, die in Ihren Hotels hängen, tatsächlich originale Drucke?

Saraiva: Alles, was sich in unseren Hotels befindet, sind Originale.

STANDARD: Von wem würden Sie gerne einen Raum designen lassen?

Saraiva: Diese Künstler leben leider nicht mehr. Aber ich träume manchmal davon, wie Räume von Man Ray, Duchamp oder Picasso aussehen würden.

STANDARD: Leben Sie immer in Hotels?

Saraiva: Sagen wir, die meiste Zeit.

STANDARD: Gibt es so etwas wie das beste Hotel der Welt?

Saraiva: Ja! Mein Lieblingshotel ist das La Colombe d'Or in Saint Paul de Vence im Süden Frankreichs.

STANDARD: Warum?

Saraiva: Es ist noch immer im Besitz der Familie, die es vor ungefähr 100 Jahren eröffnet hat. Es war ein Platz, an dem sich Künstler trafen, um Zeit miteinander zu verbringen, und in den Gebäuden und dem Garten sind Spuren davon noch immer zu sehen: ein Mobile von Calder, ein Gemälde von Picasso, Keramik von Léger.

STANDARD: Sie sind gut befreundet mit dem erfolgreichen Hotelier André Balazs, der u. a. die Standard Hotels, das Chateau Marmont und die Mercer Hotels besitzt. Was lernten Sie von ihm?

Saraiva: Er ist fähig, eine sehr gute Atmosphäre und Gemeinschaft in all seinen Unternehmen zu kreieren. Sogar in seinen riesigen Unternehmen hat man das Gefühl, dass es wie in einer gut funktionierenden, großen Familie zugeht.

STANDARD: Ihr Kollege, der britische Graffitikünstler Banksy, hat vor kurzem das Hotel The Walled Off in Palästina eröffnet. Was halten Sie davon?

Saraiva: Ich liebe es! Eines der besten Projekte, das ich seit langem gesehen habe.

STANDARD: Haben Sie schon ein nächstes Projekt?

Saraiva: Immer! Ich bastle an einem kleinen Hotel am Strand von Portugal. Es wird ein Hotel werden, aber auch gleichzeitig ein Platz, an dem Künstler für mehrere Monate leben und arbeiten können. Falls es einem dort zu ruhig wird und man sich nach Stadt- oder Nachtleben sehnt, kann man nach Lissabon fahren. Die Stadt ist nur 25 Minuten von diesem Paradiesplatz entfernt. (Cordula Reyer, RONDO Open Haus, 10.03.2018)

Weiterlesen:

La Colombe d'Or: Chagalls liebstes Gasthaus in St. Paul de Vence