"Es ist wichtig, dass erfahrene Frauen ihr Wissen an jüngere weitergeben. Das kann ihnen so einiges ersparen", sagt Professorin Alexandra Kautzky-Willer, die selbst als Mentorin engagiert ist.

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STANDARD: Frauen und Männer reagieren nachweislich anders auf Stress, verhalten sich anders in Teams, gehen anders mit Risiken um. Zu welchem Grad sind diese Unterschiede biologisch bedingt, zu welchem sozial?

Kautzky-Willer: Eine schwierige Frage, beides trifft zu. Einfluss haben die Sexualhormone – Testosteron beim Mann, Östrogen und Progesteron bei der Frau. Es gibt auch Studien, die aufzeigen, dass Karrierefrauen einen höheren Testosteronspiegel haben. Epigenetik sowie Stereotype spielen ebenfalls eine Rolle, sie verändern die körperlichen Voraussetzungen. Es heißt immer, Frauen seien empathischer, vorsichtiger, ängstlicher. Also reagieren sie auch viel stärker auf psychosozialen Stress.

STANDARD: Aber es gibt doch noch viel mehr relevante Faktoren – sozialer Status, Ethnizität, Alter...

Kautzky-Willer: So ist es. All diese sozialen Faktoren müssen wir zusätzlich zu den genetischen berücksichtigen. Der Begriff dazu ist "personalisierte Medizin". Ich prognostiziere: Sie wird immer stärker an Bedeutung gewinnen.

STANDARD: Ein großer Trend in der Medizin ist die Digitalisierung. Hilft sie bei der Personalisierung?

Kautzky-Willer: Big Data ist für die personalisierte Medizin unglaublich hilfreich. Man kann große Gruppen detailreich analysieren und interessante Zusammenhänge feststellen. An der Med-Uni haben wir Diabetes in Österreich untersucht und herausgefunden, dass es drei Peaks gab, zu denen Menschen erkrankten, nämlich in den Geburtsjahren, in denen Hungersnot herrschte. Wir wissen: Wie sich die Mutter in der Schwangerschaft ernährt, beeinflusst, woran ein Kind später erkranken könnte. Unterernährung führt zu höherem Diabetes-Risiko.

STANDARD: Sie wollten schon als Kind Forscherin und Ärztin werden. Was hat Sie daran interessiert?

Kautzky-Willer: Ich wollte etwas entdecken, war neugierig. Aber es gab auch eine gewisse Prägung: Mein Papa war Direktor einer Gehörlosenschule. Ich habe als Kind oft mit gehörlosen Kindern gespielt. Das hat mich fasziniert, aber sie haben mir auch leidgetan, und ich dachte: Ich will etwas erfinden, was ihnen helfen kann.

STANDARD: In einem Interview haben Sie appelliert, "bei Mädchen auf eine gute naturwissenschaftliche Ausbildung zu achten".

Kautzky-Willer: Das wäre ganz wichtig. Wenn man davon ausgeht, dass Mädchen das sowieso schlechter können, und ihnen Puppen in die Hand drückt, kommt es zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung, und sie können es wirklich nicht. Burschen, die mit Lego oder Matador spielen, lernen von klein auf das Motorische, schulen ihre Raumvorstellung. Das Gehirn ist plastisch: Wir können das, was wir üben.

STANDARD: Wie sehen Sie die Diskussion um den Aufnahmetest für das Medizinstudium? Dort schneiden Frauen seit Jahren schlechter ab.

Kautzky-Willer: Eben weil sie eine schlechtere Raumvorstellung haben. Glücklicherweise wird der Test laufend überarbeitet. Mittlerweile ist er halbwegs fair. Dennoch kommen immer noch relativ mehr Männer zum Zug.

STANDARD: Das gilt auch für die höheren Hierarchieebenen. Woran hakt es?

Kautzky-Willer: Studien zeigen, dass Karriereknicks meist um das 30. Lebensjahr herum passieren – ein Alter, in dem viele Kinder bekommen. Nach der Karenz arbeiten Frauen oft auch noch jah relang Teilzeit. Das ist fatal. Um weiterzukommen, braucht man Übung, muss präsent sein.

STANDARD: Viele Forscherinnen bleiben daher kinderlos. Sie haben einen Sohn.

Kautzky-Willer: Und einen Mann, der sich genauso um Kind und Haushalt gekümmert hat. Das hört man von den meisten Frauen, die Karriere machen.

STANDARD: Sie engagieren sich als Mentorin, sind Vorsitzende des Ar beitskreises für Gleichbehandlung der Med-Uni.

Kautzky-Willer: Mentoring ist ganz wichtig. Wir haben eine Umfrage unter Primarärztinnen und Professorinnen durchgeführt. Was ihnen geholfen hat? Mentoring und Netzwerke. Es ist wichtig, dass erfahrene Frauen ihr Wissen an jüngere weitergeben. Das kann ihnen so einiges ersparen. Junge Frauen sollten sich selbstbewusst zeigen, nicht warten, bis jemand erkennt, was sie leisten.

STANDARD: Die Gendermedizin ist ein fast reiner Frauenbereich. Wann wird sich das ändern?

Kautzky-Willer: Das ändert sich bereits. Bei den Diplomarbeiten ist das Verhältnis zwischen Männern und Frauen ziemlich ausgewogen. Unter den Bewerbern um Doktoratsstellen sind mittlerweile mehr Männer. International sieht man zunehmend Männer in der Genderforschung. (Lisa Breit, 9.12.2017)