Der Türke links, der Grieche rechts: Erdoğan und Pavlopoulos.

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Athen – Wenn sich politische Macht in Zentimetern bemessen lässt, dann nimmt Tayyip Erdoğans Machtfülle selbst im benachbarten Griechenland viel Raum ein. Der türkische Staatspräsident füllt wie von selbst den Großteil des weiß gepolsterten Sofas im Amtssitz seines griechischen Gastgebers. Prokopis Pavlopoulos sitzt am rechten Rand des Möbels. Doch die Körpersprache täuscht. Der 67-jährige Grieche mit dem weißen Haarschopf liefert sich vor laufenden Kameras einen überraschend deutlichen Schlagabtausch mit dem Gast aus der Türkei. Der als historisch gefeierte Besuch Erdoğans in Athen beginnt am Donnerstagvormittag in angespannter Atmosphäre.

Ein Vertrag aus der Zwischenkriegszeit rückte in den Mittelpunkt des Besuchs. Erdoğan hatte schon früher im Jahr mit einem Mal den Lausanne-Vertrag von 1923 infrage gestellt. Er regelt die Grenzziehungen zwischen beiden Ländern, die Hoheit der Griechen über die Ägäisinseln sowie die Rechte der türkischen und griechischen Minderheiten in beiden Ländern. Erdoğans Ruf nach einer Revision des Vertrags war als innenpolitisches Geplänkel abgetan worden. Doch in einem Interview mit der griechischen Tageszeitung "Kathimerini" vor seinem Abflug nach Athen brachte er den Lausanne-Vertrag erneut aufs Tapet. Und dann kam der Wortwechsel auf dem Sofa von Pavlopoulos.

Der Vertrag habe keine Mängel, erklärte der griechische Präsident gleich zu Beginn. Er müsse nicht überprüft und nicht aktualisiert werden: "Dieser Vertrag ist für uns nicht verhandelbar." Erdoğan widersprach.

Streit um Mufti

Einige Details seien nicht klar, sagte der türkische Staatspräsident und nannte als Beispiel das Amt des obersten Mufti. Die türkische Bevölkerungsgruppe in der nordgriechischen Provinz Thrakien – Erdoğan hatte ihre Zahl im Interview auf 150.000 beziffert – habe nicht das Recht, ihn selbst zu bestimmen. Nicht einmal "türkisch" dürfe sie sich nennen. Die griechische Minderheit in der Türkei habe mehr Privilegien. Der Lausanne-Vertrag stehe in seiner derzeitigen Form auch einer dauerhaften Lösung von Territorialfragen in der Ägäis und des Zypern-Problems im Weg. Elf Staaten hätten den Vertrag vor 94 Jahren unterzeichnet, erklärte Erdoğan, nicht allein Griechenland und die Türkei. Der Vertrag stamme aus einer anderen Zeit, wollte der türkische Präsident damit sagen. Die Türkei habe in den 1950er-Jahren auch nicht den Beitritt Griechenlands zur Nato verhindert, fügte Erdoğan etwas unvermittelt an.

Erdoğan ging anschließend zu Fuß in einem Pulk von Leibwächtern die wenigen Meter vom Amtssitz des Präsidenten zu dem des Premiers. Dort empfing ihn Alexis Tsipras, wie immer ohne Krawatte. Erdoğan hatte dem griechischen Regierungschef bei der ersten Begegnung eine Krawatte geschenkt und fragte Tsipras bei späteren Treffen halb amüsiert, halb mahnend nach deren Verbleib. Dieses Mal aber kam auch Tsipras rasch auf Lausanne. Die Achtung internationaler Abkommen sei eine Vorbedingung für gute bilaterale Beziehungen, erklärte der Premier. Luftraumverletzungen durch türkische Militärmaschinen haben in den vergangenen zwei Jahren stark zugenommen. Kampfjets donnern seither regelmäßig in Formation über griechische Inseln vor der türkischen Küste.

Besuch in Thrakien

Erdoğan war zuletzt 2010 auf Besuch in Athen, damals noch als Regierungschef. Sein Besuch nun ist der erste eines türkischen Präsidenten seit Celâl Bayar 1952. Erdoğan wird am Freitag die muslimische Minderheit in Thrakien besuchen.

Griechenland hat von 1919 bis 1922, während des Zusammenbruchs des Osmanischen Reichs, einen Krieg in Anatolien gegen die sich formierende Armee der türkischen Nationalisten von Mustafa Kemal geführt. Der Krieg um die Ausdehnung des griechischen Einflusses in Kleinasien endete in einem vollkommenen Desaster für die Griechen. Die Zerstörung Smyrnas – des heutigen Izmir –, Massaker, Flucht und ein rechtlich vereinbarter Bevölkerungsaustausch waren die Folge. 1955 kam es in Istanbul zu einem Pogrom gegen die verbliebene griechische Minderheit. (Markus Bernath aus Athen, 7.12.2017)