Verfasser origineller Miniaturen: Robert Gernhardt.

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Robert Gernhardt, "Der kleine Gernhardt. Was war, was bleibt, von A bis Z". Hrsg. Andrea Stoll, € 18,50 / 187 Seiten. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2017

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Robert Gernhardt, der am 13. Dezember 80 Jahre alt geworden wäre, war nicht nur der bekannte große Satiriker und Zeichner, er war genauso genialer Lyriker, Essayist und Verfasser origineller Prosaminiaturen. Eine posthume Auslese von Stichwortnotizen liefert uns jetzt der von der Bachmann-Biografin Andrea Stoll herausgegebene kleine Band, in den man täglich mit jeweils kurzer Verweildauer eintauchen kann, so wie in einem Lexikon voller Lebenseinträge nachzuschlagen wäre. Aber kann man literarische Texte einfach so nachschlagen? Hat der Autor sie für solches streuendes Kurzlesen konzipiert? Ich möchte meinen, ja – das große Ganze war nie die Absicht seines Werks, hätte auch nie diese spontane Wirkung gehabt, die seine Kurztexte bis heute hervorrufen.

Von 1970 an bis zu seinem Tod im Jahr 2006 hat er kontinuierlich Eintragungen in Schulhefte vorgenommen: Zeichnungen, Gedichte, Prosaskizzen, "frisch und frech", wie die Herausgeberin bemerkt, dem Augenblick entrissene, "allzu menschliche" Reflexionen mit viel Witz und philosophischem Tiefgang, ironisch und melancholisch grundiert. Es waren Schulhefte der Marke Brunnen, deren "prima Papier, prima Falz" den Beschreiber faszinierte. Andere schreiben Tagebuch, Gernhardt führte "Brunnenhefte", wie er sein Schreibmedium bald nannte – am Ende waren es nicht nur 675 vollgeschriebene und -gezeichnete Hefte, mit ihnen war auch fast so etwas wie eine eigene Literaturgattung entstanden und in seiner Wirkung ein "monströser Echoraum seines Schreibens".

Plan vorgegeben

Eine Verwertung dieses "labyrinthischen Projekts" hat der Verfasser nur nicht mehr erlebt, aber er hat den Plan dazu vorgegeben. Vier Jahre vor seinem Tod, damals wurde eine Krebserkrankung diagnostiziert, begann er aus dem reichen Fundus eine Textsammlung zusammenzustellen, der er den Titel Der kleine Gernhardt gab – das erinnert natürlich an ein Standardwerk der Lexikografie, den Kleinen Pauly, jene Fachenzyklopädie der Antike, an der kein Geisteswissenschafter vorbeikann. Gernhardts Textsammlung sollte eine alphabetische Autobiografie in "Stich- und Hauptworten" werden, ein enzyklopädischer Querschnitt durch das riesige Textgut, das sich über 30 Jahre im "Archivraum der Brunnenhefte" angesammelt hatte.

Es blieb Andrea Stoll vorbehalten, dieses letzte Opus fertigzustellen: Sie hat neben den von Gernhardt noch ausgewählten und bearbeiteten Stichworten unzählige weitere den Heften entnommen, ohne in die Ursprünglichkeit des Unfertigen einzugreifen. Das unterstreicht den Charakter des Skizzenhaften, verdeutlicht aber auch, dass die Kurzform Gernhardts Metier war, in der die Spontaneität des Augenblicks ihren gültigen Abdruck fand. So gesehen war Robert Gernhardt ein sehr literarischer Karikaturist, das Humoristische liegt bei ihm in der Verknappung, die nie Überzeichnung ist, der Tiefsinn im scheinbar beiläufigen Sound.

Szene auf dem Hauptbahnhof

"Dichtung und Warten" heißt ein solcher eineinhalb Seiten langer Text, der wiederum auf einen anderen großen Titel, "Dichtung und Wahrheit", anspielt, als gelte es einen Augenblick Goethe kurz zu fassen. Doch Gernhardt beschreibt eine komisch anmutende Szene auf dem Frankfurter Hauptbahnhof, er beobachtet eine Frau, die offenbar vergeblich auf jemanden wartet. Der Beobachter wähnt sofort "Allzuzwischenmenschliches", hier lässt ein Mann eine Frau warten, hat sie vermutlich versetzt – "sowas tut man doch nicht", denkt er fast gereizt und entwickelt bereits "starke Antipathien gegen diesen Mann". Doch da taucht die erwartete Person doch noch auf dem Bahnsteig auf, es ist eine Frau, die sogleich die Wartende umarmt. "Schade", denkt sich der Beobachter. "Ich hatte bereits in Gedanken ein Gedicht begonnen, an den Mann gerichtet, daß man solch eine Frau doch nicht warten lasse. Nun dies Gedicht kaputt. Frau froh. Dichter still." Und ein paar Zeilen später fügt er den lakonischen Kommentar hinzu: "Erfüllung ist schlecht für die Kunst".

Das klingt fast nach einer Grundformel und könnte der verbindende Faden durch dieses Buch sein, von "Alter" bis "Zeichnen": Das eine kommt unweigerlich, das andere kann ein Lebensberuf sein. Er verband Gernhardt mit einem anderen genialen Zeichner, den gleichaltrigen F. K. Waechter, der, mehr als nur ein Kollege, hier in zehn Texten vorkommt, zuletzt in "Nachruf" und "Letzte Worte", ein Text, der den Abschiedsbesuch am Krankenbett erinnert (Waechter starb ein Jahr vor Gernhardt).

Eine andere intime Begegnung schildert der Autor in einem Momentum postum: In der Bildhauerwerkstatt von Michael Siebel hält er im Jahr 2005 "Unselds letztes Gesicht in Händen", den "blicklosen Abguß" der Totenmaske, die der Bildhauer in der Totenhalle des Hauptfriedhofs abgenommen hatte und nachher auf Wunsch der Witwe des Suhrkamp-Verlegers mehrmals bearbeiten musste: "Ein friedlich wirkendes Gesicht, in dem ich Unseld freilich nicht erkannt hätte". (Siehe oben: "Erfüllung ist schlecht für Kunst".) Der Text heißt übrigens "Brunnen der Vergänglichkeit", der reicht tief, und in ihm spiegelt sich alles Gewesene noch einmal: verdichtet und verformt zur zeitlosen Erkenntnis. (Gerhard Zeillinger, 13.12.2017)