Die erste Phase der Brexit-Verhandlungen endet mit einem Kompromiss zwischen Theresa May und Jean-Claude Juncker, die zweite Phase kann beginnen – sie dürfte jedoch noch schwieriger werden.

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Das 15-seitige Papier, auf das sich Großbritannien und die EU am Freitag geeinigt haben, beendet den ersten Teil der Brexit-Verhandlungen. Er werde nun den 27 Staats- und Regierungschefs die Aufnahme von Gesprächen über die zukünftigen Handelsbeziehungen empfehlen, sagte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in Brüssel.

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Bei jenen Punkten, in denen Brüssel Einigkeit verlangt hatte, wurden Formeln gefunden, mit denen beide leben können. Vieles muss in neuen Gesprächen geklärt werden. Entsprechend unterschiedlich waren Freitag die Reaktionen: Während sich der irische Premier Leo Varadkar und Teile der konservativen Unterhausfraktion erleichtert zeigten, äußerten sich EU-Feinde skeptisch. Sie werfen Premierministerin Theresa May mangelnde Härte vor. Sie selbst sieht sich dennoch gestärkt. Immerhin hatte sie sich in 14 Tagen dreimal nach Brüssel aufgemacht, um mit Chefunterhändler Michel Barnier und Brexit-Minister David Davis zu verhandeln.

Die Einigung im Detail:

RECHTE

Dem Papier zufolge bleiben die Rechte der EU -Bürger in Großbritannien auch in Zukunft gewahrt. Die rund drei Millionen, die auf der Insel leben und arbeiten, sollen demnach genau die gleichen Rechte und Pflichten besitzen wie bisher. Im Gegenzug sicherte Brüssel zu, dass für die eine Million Briten, die außerhalb von Großbritannien und in der Europäischen Union leben, das Gleiche gilt. Dazu zählt, neben der vollen Gleichberechtigung am Arbeitsplatz und bei der Behandlung im staatlichen Gesundheitswesen, auch das Recht, (finanziell) abhängige Familienmitglieder wie Kinder, Eltern oder Großeltern nachkommen zu lassen.

In Streitfällen können sich Polen, Iren oder Italiener noch acht Jahre lang an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) wenden. Danach werden britische Gerichte zuständig sein, sie sollen aber auch weiterhin die EuGH-Rechtsprechung berücksichtigen. Wer in Großbritannien bleiben will, muss sich nach dessen endgültigem Austritt aus der Union im März 2019 binnen zwei Jahren eine bislang nicht notwendige Aufenthaltsgenehmigung einholen. Nach März 2019 in Großbritannien geborene Kinder sollen die gleichen Rechte wie heute auf die Welt gekommene genießen.

GELD

Beim Streit ums liebe Geld war der Durchbruch bereits vergangene Woche gelungen: London akzeptiert die von der EU errechneten Bruttoverbindlichkeiten von rund 98 Milliarden Euro. Da der Nettobetrag über mehrere Jahre und in Euro anfällt, bleibt die Pfund-Gesamtsumme obskur, was britischen Inter essen entspricht. Je nach Wirtschaftsentwicklung und Währungsschwankungen rechnen Experten mit einem Betrag zwischen 40 und 50 Milliarden Euro. Brexit-Staatssekretär Steve Baker sprach am Freitag, basierend auf "vernünftigen Annahmen und öffentlich zugänglichen Daten", von einem Korridor zwischen 35 und 40 Milliarden Euro.

London erhält umgekehrt seine Kapitaleinlage in die Europäische Investmentbank EIB in zwölf jährlichen Raten zurückgezahlt.Londons finanzielle Verpflichtungen waren eines der drei Felder, auf die sich Brüssel im Vorfeld verständigen wollte, ehe die Gespräche über das zukünftige Verhältnis beginnen. Den Kompromiss können nun beide Seiten als Erfolg verkaufen: Die EU bekommt bis 2020 Geld aus London. Theresa May kann durch die Brutto- und Nettodiskrepanz zunächst eine niedrigere Rechnung präsentieren.

GRENZEN

Den am Montag noch ungeklärten Streit um die innerirische Grenze haben die Verhandler in wolkige Formulierungen gehüllt und auf die Zukunft vertagt. Betont wird die gemeinsame Abscheu vor einer "harten Grenze", wie sie vor Abschluss des Karfreitagsabkommens von 1998 existierte. Die gemeinsame Wirtschaftszone der beiden Inseln, die längst vor dem EWG-Beitritt 1973 Bestand hatte, soll ebenso intakt bleiben wie die verfassungsrechtliche Integrität des Vereinigten Königreichs (UK). Führen die Handelsgespräche nicht zum Erfolg, werde das UK "vollständige Angleichung" ("alignment") mit all jenen Regeln des Binnenmarkts bewahren, die vom Karfreitagsabkommen betroffen sind.

Besonders letzterer Passus stößt den EU-Feinden sauer auf. "Darüber muss noch mal gesprochen werden", glaubt der konservative Abgeordnete David Jones. Die nordirisch-unionistische DUP mochte den Deal nicht begrüßen. Hingegen herrschte in Dublin Zufriedenheit. Man habe "in Phase eins alles erreicht" sagte Premier Leo Varadkar. Dies sei aber erst "das Ende des Anfangs" – ein Hinweis auf die nun beginnenden Gespräche, die auch viele Handelsexperten für schwierig halten.

Noch viel zu besprechen

Doch gibt es nun auch neue Probleme: Nachdem die nordirischen Unionisten erfolgreich Druck in Sachen Grenzen ausgeübt haben, wittern auch andere Morgenluft. Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon sagte, auch für ihre Region solle es eine Lösung nach dem Wunsch der Schotten geben – diese hatten mit großer Mehrheit gegen den Brexit gestimmt. Ähnlich hatte sich zuvor schon der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan über seine Stadt geäußert, die bisher stark von der EU profitiert. (Sebastian Borger aus London, 8.12.2017)