Der deutsche Philosoph Ekkehard Martens zählt neben Lesen, Schreiben und Rechnen auch Philosophieren mit Kindern zu den Kulturtechniken, die die Schule vermitteln sollte.

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STANDARD: Vom antiken Philosophen Sokrates (469 – 399 v. Chr.) wissen wir: "Ich weiß, dass ich nicht weiß", von US-Philosoph Harry G. Frankfurt, dass wir von "Bullshit" umzingelt sind. Er legte schon 1985 mit "On Bullshit" eine Art Manifest der Dummheitsforschung vor. Und Sie sagen jetzt, genau zwischen diesem sokratischen Nichtwissen und dem weitverbreiteten Bullshit liegt "eine aktuelle bildungspolitische Herausforderung" – welcher Art ist die denn?

Martens: Ich beobachte in der Schule, aber auch an der Uni immer häufiger den schulterzuckenden Satz: "Ach, das muss jeder selbst wissen." Ich sehe darin eine grundskeptische Haltung, die ich für sehr gefährlich halte: "Ist doch letztlich alles egal, wir wissen doch sowieso nichts Sicheres." Da kann jeder gleich drauflosreden. Daraus folgt so eine geheime Ideologie: "Wir wissen und können alles. Sollen die anderen doch anderer Meinung sein, macht nichts, mal sehen, wer sich durchsetzt." Natürlich wird jedem gleich ein gewisser amerikanischer Präsident einfallen, aber das war auch vor Donald Trump schon weitverbreitet – und das muss man erkennen und etwas dagegen tun.

STANDARD: Wird denn mit den neuen technologischen Möglichkeiten und sozialen Medien mehr Bullshit produziert oder kriegen ihn heute einfach nur mehr Menschen mit?

Martens: Damit ich nicht selber Bullshit produziere, müsste ich jetzt eigentlich sagen: Ich vermute einiges, aber ich weiß es nicht empirisch überprüfbar. Ich vermute, und Harry G. Frankfurt vermutet das auch, dass in unserer Mediengesellschaft die Gefahr besteht, wenn uns Politiker oder andere Meinungsmacher etwas erzählen oder überhaupt, wenn wir medial verbunden sind, dass es uns dann sehr leicht fällt, irgendetwas daherzureden. Wir werden immerzu aufgefordert, unsere Meinung zu sagen, und dann wird drauflosgeplappert, und keiner kann das so schnell kontrollieren. Unsere mediale Wirklichkeit verführt insgesamt zum Bullshit.

STANDARD: In welcher Form fügt sich da das Gerede vom "postfaktischen Zeitalter" ein? Wir müssen gar nicht die "alternativen Fakten" strapazieren. Wir sehen auch eine Erosion wissenschaftlicher Autorität. Die USA werden von einem Präsidenten regiert, der den Klimawandel leugnet. Ist das auch ein Ausdruck des "Wir wissen nichts, eigentlich gibt es gar kein gesichertes Wissen, alles ist relativ"?

Martens: Ja, ich sehe auch einen Zusammenhang zwischen dem Reden über das postfaktische Zeitalter und dem Bullshitgerede. Das postfaktische Zeitalter sollte man ja kritisch und nicht so zustimmend betrachten. Das wäre dann aus meiner Sicht schon Bullshit.

STANDARD: Ist in der politischen Kommunikation heute mehr Hohlsprech zu beobachten oder war Politik immer schon ein Ort mit relativ hohem Sprechblasenoutput?

Martens: Das gab es immer schon, und ich habe auch eine Quelle, nämlich Sokrates. In den sokratischen Dialogen, in denen Platon seinen Lehrer Sokrates im Dialog inszeniert, beklagt er sich über die damaligen Sophisten, die als moderne "Lehrer" unterwegs waren. Nach diversen Kriegen gab es keine feste Orientierung mehr, und nach dem Zusammenbruch des Mythos war man genötigt, selber nachzudenken statt nachzuplappern. Für Sokrates stand das eigene Nichtwissen am Anfang der philosophischen Suche nach der Wahrheit. Die Sophisten dagegen gingen davon aus, dass der Mensch nur die eigene Wahrheit hat, und boten Rhetorikkurse an, wo gelehrt wurde, das schwächere Wort zum stärkeren zu machen, wie man die Begriffe hinbiegen kann, um seine Interessen in der Volksversammlung gut durchzusetzen. Das kennt man bis heute.

STANDARD: Warum ist Sokrates auch im Jahr 2017 noch ein guter Lehrer? Was kann man von ihm und seiner Methode zu denken für die Schule heute übernehmen?

Martens: Sokrates lehrt uns nachzufragen, die Schüler zu bitten, Thesen zu formulieren, vor allem aber auch die Thesen zu kritisieren, sich der Kritik der anderen zu stellen. Nicht, dass man alles selbst rauskriegen kann, aber man muss auch einmal versuchen, erst selbst nachzudenken. Man kann ja auch von den anderen lernen, sogar von Lehrern und Professoren (lacht). Aber erst einmal kommt das Selbstdenken, danach das kritische Weiterdenken.

STANDARD: Sie sehen eine inhaltliche Lücke in den in der Grundschule vermittelten Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen - was fehlt Ihrer Meinung nach?

Martens: Ich vertrete die These, dass Philosophieren mit Kindern ganz wichtig ist. Ich habe bis vor einigen Jahren mit jüngeren Schülern, Zehn-, Elfjährigen, philosophiert. Das war wunderbar als Erlebnis. Sie möchten ja reden. Vor allem habe ich gemerkt, dass sie wirklich ins Nachdenken kamen. Können Tiere selber denken? Darf man mit ihnen alles machen? Warum darf man Kinder nicht "Stück" nennen? Das war ganz witzig. Die Kinder fragten mich einmal: "Herr Martens, haben Sie Kinder?" Ich habe gesagt: "Ja, drei Stück." Und sie waren empört. Ich habe mich ein bisschen unwissend gestellt. "Man sagt nicht ,Stück' zu Kindern." Ich habe weitergefragt: "Warum nicht?" Das war ein wunderbares Gespräch. Ein Kind hat auch gewusst, dass die Gefangenen in den KZs Nummern hatten und wie irgendwelche leblosen Sachen behandelt wurden. Wenn Kinder auf solche Unterscheidungen kommen, dann zeigt das doch, dass sie sehr sensibel sind und sich Gedanken machen.

STANDARD: In der Schule geht es heute vor allem um "Kompetenzen". Welche "Kompetenz" können Kinder durch das Philosophieren erwerben?

Martens: Ich weiß, dass der Begriff "Kompetenz" bei vielen Kollegen und Lehrern sehr umstritten ist, und das kann ich auch nachvollziehen, wenn jetzt Kompetenzlisten angelegt werden mit 20, 30 Sachen, die die Kinder lernen müssen. Da weiß ich gar nicht, wie man das als Lehrer leisten soll. Das ist übertrieben, aber was richtig daran ist: Nicht nur mit Wissen vollpfropfen, das ist eine uralte Kritik. Es geht darum, Kinder zu befähigen, mit dem Wissen umzugehen, kritisch, verständnisvoll, nachfragend, selber etwas behauptend. Das ist in der Philosophie, zumal in einem sokratischen Gespräch, sehr gut möglich, da übt man das.

STANDARD: Ist jedes fokussiertere Nachdenken von Kindern gleich "Philosophieren"?

Martens: Man muss es nicht gleich Philosophieren nennen, man kann auch Nachdenken sagen. Aber Philosophieren ist es dann, wenn man sich auf so grundsätzliche Fragen konzentriert, nicht darauf, wo wir nächstes Jahr in Urlaub fahren wollen, sondern auf Fragen nach Gerechtigkeit, Kinder- und Tierrechten etc. Das beschäftigt auch die Kinder. Sie können philosophieren, eindeutig.

STANDARD: Was kann man bei Kinderphilosophie falsch machen?

Martens: Wenn man nicht zuhört, wenn man nicht nachfragt: Ich habe dich jetzt nicht verstanden, was meinst du eigentlich? Die Kinder müssen merken, dass man sie respektiert und wirklich wissen möchte, was sie sagen und meinen. Die große Chance der Philosophie ist ja die: Wir haben Zeit. In der Antike hieß es auch: Muße.

STANDARD: In welcher Form würden Sie Philosophie in der Schule verankern: als eigenes Fach oder als sokratisches Gespräch, das in jedem Fach geführt werden könnte?

Martens: Eigentlich wäre das ein durchgehendes Unterrichtsprinzip, wie Sie es beschrieben haben. Aber da ist die Frage, ob die Lehrerinnen und Lehrer einigermaßen vorgebildet sind, denn die Methode muss man schon können. Es kommt darauf an, dass die Kinder Argumente bringen, versuchen, klarer zu sprechen, den Mut haben, auch etwas zu sagen, ohne dass man von den anderen ausgelacht wird usw. Und es ist auch gut, wenn man sagt: Jetzt philosophieren wir. (Lisa Nimmervoll, 11.12.2017)