Salzburg/Wien – Es war im Nachhall der Terrorattacken in Paris im Jänner 2015, da sich ausgehend von der Universität Toulouse ein Netzwerk bildete, um Radikalisierungstendenzen auf die Spur zu kommen und ihnen entgegenzuwirken. Mehr als 25 Institutionen und Organisationen aus mehreren europäischen Staaten (neben Frankreich sind Österreich, Spanien, Belgien, Griechenland, Italien und Portugal beteiligt) sowie aus Tunesien fanden zusammen. Das großangelegte Projekt namens Practicies (Partnership against violent radicalisation in cities) bekam einen Zuschlag im EU-Forschungsprogramm Horizon 2020 und wird seit Juni für die kommenden drei Jahre mit rund 3,4 Millionen Euro gefördert.

Radikalisierungsprozesse erkennen

"Es geht darum, einerseits Radikalisierungsprozesse wissenschaftlich zu analysieren, und andererseits, praktische Anwendungen zu entwickeln und zu evaluieren, um herauszufinden, an welcher Stelle man mit welchen Methoden arbeiten muss, um Extremismus und Radikalisierung zu verhindern", sagt Markus Pausch, Politikwissenschafter vom Studiengang Soziale Arbeit an der Fachhochschule Salzburg.

Blumen statt Granaten: Was Graffitikünstler Banksy (hier im Westjordanland) propagiert, wollen Wissenschafter gern auch an Jugendliche weitergeben.
Foto: APA/AFP/THOMAS COEX

Die FH Salzburg ist gemeinsam mit der Jugendbeauftragten der Stadt Salzburg österreichischer Partner in dem Projekt und – in enger Zusammenarbeit mit Vertreten aus Nizza und Toulouse – zuständig für den Bereich Frühprävention. Während man in Frankreich bereits länger Erfahrung mit Jihadismus und islamistischem Terrorismus habe, stehe Österreich diesbezüglich noch am Anfang. Man spreche hierzulande hauptsächlich von potenziellen Gefährdern, betont Pausch. Laut Schätzungen des Verfassungsschutzes liegt die Zahl der Islamisten, die bereit wären, Straftaten zu verüben, bei etwa 150 Personen.

Langjähriges Problem Rechtsextremismus

"In Österreich gibt es aber ein langjähriges Problem mit gewaltbereiten Rechtsextremen und auch neuen Formen wie Identitären und Staatsverweigerern", sagt Pausch. Das Forschungsprojekt verstehe Radikalisierung als Entwicklung hin zu einer gewaltbereiten und antidemokratischen Einstellung – egal vor welchem ideologischen Hintergrund.

Auch die Radikalisierung an sich verläuft meist sehr ähnlich, unabhängig von der Weltanschauung. Es beginne mit einer Phase der Präradikalisierung, die von Verunsicherung sowohl im individuellen als auch im gesellschaftlichen Lebensumfeld geprägt ist, beschreibt Pausch die ersten Etappen der Radikalisierung.

Danach folge eine Phase der Abkoppelung aus dem traditionellen Umfeld, wie Familie und Freundeskreis, und das Interesse für alternative Lebenskonzepten und Ideologien. Ist dann der Schritt der Abkoppelung mit einem Auszug von zu Hause, dem Schulabbruch oder der Kündigung vollzogen, kann das zum Nachdenken über Aktionen bis hin zum Verüben von terroristischen Akten führen.

Politische Mitsprache

In Salzburg konzentrieren sich die Wissenschafter darauf, eine breite Gruppe von Jugendlichen zu erreichen, um Radikalisierungstendenzen möglichst früh abzufangen. Dabei sollen vielfältige Maßnahmen entwickelt werden, um etwa jugendlichen Migranten die Möglichkeit zu geben, sich politisch zu artikulieren. Pausch nennt Rap-Wettbewerbe, Poetry Slams und Graffitiaktionen, die bewusst politische Inhalte behandeln sollen, als Beispiele. Zudem sollen sich Experten nicht nur international, sondern auch innerhalb von Österreich besser vernetzen, und auch die muslimische Community solle miteinbezogen werden.

Projektpartner aus Belgien befassen sich darüber hinaus mit der Entwicklung von Onlinespielen, um marginalisierten Jugendlichen eine Stimme zu geben. In Frankreich ist unter anderem die Expertin für Deradikalisierung schlechthin, Dounia Bouzar, beteiligt – sie arbeitet seit Jahren mit islamistischen Extremisten. In Portugal beschäftigt man sich mit der Deradikalisierung in Gefängnissen.

Die Codes der Rekrutierer knacken

Mit einem anderen Teilprojekt in Frankreich wird wiederum versucht, anhand von Internetseiten eine linguistische Analyse von Hate-Speech durchzuführen und Sprachbilder und Codes zu finden, die IS-Sympathisanten zur Rekrutierung von Jugendlichen verwenden. "Es ist beeindruckend und beängstigend, wie professionell manche Akteure – Islamisten wie Identitäre – in die Bereiche vordringen, wo Jugendliche besonders sensibel sind", sagt Pausch.

Mit an Bord der österreichischen Forscher ist in beratender Funktion auch die Beratungsstelle Extremismus des Familienministeriums (siehe unten). Pausch hofft jedenfalls, dass sich die Expertise auch in der Politik niederschlägt und sich "die politische Aufmerksamkeit nicht in Slogans und populären Maßnahmen erschöpft". (Karin Krichmayr, 14.12.2017)