"Es ist die Stärke digitaler Kunstwerke, dass sie komplexe Themen unserer Zeit abbilden können", sagt Medienwissenschafter Oliver Grau.

Foto: Ars Electronica

Oliver Grau, geb. 1965 in Deutschland, leitet das Department für Bildwissenschaften an der Donau-Universität Krems.

Foto: Donauuniversität Krems

Wien – Wer digitale Kunstwerke erleben möchte, also solche, die sich etwa mit Robotik und Interaktion befassen oder auf Virtual-Reality-Umgebungen beruhen, findet diese vor allem auf Festivals. Rund 150 einschlägige gibt es weltweit – in Österreich etwa das Ars Electronica Festival -, dazu kommen 200 Biennalen. Verhältnismäßig selten ist die technologielastige Kunst dagegen in den Museen zu finden. Ein Missstand, wie Bildwissenschafter Oliver Grau meint, denn es drohe die Gefahr, dass "wir die gesamte digitale Kultur der letzten Dekaden verlieren". Seit geraumer Zeit engagiert sich Grau, Lehrstuhlinhaber an der Donau-Universität Krems, für eine "konzertierte Sammlungspolitik" in der Museen- und Archivlandschaft, die diesen Verlust abwenden soll. Der Frage der Erhaltung digitaler Kunst widmete sich auch die internationale Media-Art-History-Konferenz 2017, die Grau jüngst in Krems leitete.

STANDARD: Herr Grau, warum ist es ein Problem, dass die digitale Kunst von den Museen eher stiefmütterlich behandelt wird?

Grau: Wir leben in einer Gesellschaft, die genau weiß, dass große Fragen ihrer Zeit – Überwachung, Klimawandel, die Virtualisierung der Finanzmärkte, die Biorevolution – insbesondere von der digitalen Kunst behandelt werden. Es ist die Stärke dieser komplexen Werke, dass sie jene Themen visualisieren können. Mithin ist es für unser steuerfinanziertes Kunst- und Kultursystem ein demokratiepolitisches Problem, wenn unsere Gedächtnissysteme – Museen und Archive – den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit verwehren, über die Themen der digitalen Kunst zu reflektieren.

STANDARD: Woher rührt die "Ignoranz" der Museen?

Grau: Das geschieht weitgehend ohne Absicht. Die Häuser sind zu kleinteilig und kaum in der Lage, das technische Know-how zu entwickeln, eher noch das kunstwissenschaftliche. Die Werke sind komplex, und Museumsleute fürchten, einen Technopark einrichten zu müssen, für den sie nicht genug Personal haben.

STANDARD: Wie groß ist der technische Aufwand, damit die digitale Kunst nicht, wie Sie einmal meinten, im "schwarzen Loch" verschwindet?

Grau: Im Grunde sind alle Erhaltungsfragen geklärt. Man kann die Software durch Emulation aufs aktuelle Level bringen, und hinsichtlich der Hardware muss man nicht alte Maschinen aufbewahren, sondern in Absprache mit den Künstlern werkgerecht bleiben. Bei interaktiven Installationen wäre das Interface zu erhalten. Ziel sollte sein, die Aussagekraft eines Werks etwa aus den 1970er-Jahren ins Jetzt zu holen.

STANDARD: Warum existiert trotzdem eine Mauer?

Grau: Wir brauchen zunächst Problembewusstsein bei den kulturpolitisch Verantwortlichen. Bei einer Diskussion im Jüdischen Museum in Berlin fragte ich die Kulturstaatsministerin, ob sie plane, die Museen in die Lage zu versetzen, digitale Kunst zu erhalten. Sie meinte: "Wozu? Es gibt doch das Zentrum für Medienkunst in Karlsruhe (ZKM)." Das ZKM aber hat nur eineinhalb Stellen, um Videos zu digitalisieren, und keine Ressourcen, um eine repräsentative Sammlungspolitik zu betreiben. Es folgte dann noch ein Schriftverkehr mit ihren kompetenten Mitarbeitern, die rieten, es müsse mehr Druck aus der Szene entstehen.

STANDARD: Wie könnte man das nötige Verständnis schaffen?

Grau: Konkret könnte in Österreich das zuständige Ministerium einen Fragebogen an Museen verschicken, der abfragt: Wie viele digitale Kunstwerke habt ihr, und was tut ihr für deren Erhaltung? Das Ergebnis ginge gegen null und zeigte im Land der Ars Electronica die Dringlichkeit, hier Verantwortung zu übernehmen.

STANDARD: Wie rechtfertigen sich die Verantwortlichen, wenn sie darauf angesprochen werden?

Grau: In der Regel bestätigen sie die Problematik – 450 Wissenschafter und Museumsleiter haben dies in der Liverpool Declaration bereits getan. Andererseits besteht der Widerstand des Betriebssystems Kunst, das sich gerne auf den Kunstmarkt beruft, der kaum digitale Arbeiten handelt. Dies aber kann einer demokratischen Gesellschaft, deren Sammlungspolitik anderen Parametern folgen muss, nicht Maßstab sein.

STANDARD: Spielt der Umstand eine Rolle, dass immaterielle Kunstwerke von manchen nicht für voll genommen werden?

Grau: Mag sein, dass es das noch gibt. Wenn man jedoch die Zahlen anschaut, kann es keinen Zweifel an der Anerkanntheit der digitalen Kunst geben. Wir können das dank des von mir mitgegründeten Archive of Digital Art, das tausende Werke dokumentiert, empirisch belegen. Über manche Arbeiten, die weltweit gezeigt wurden, gibt es mehr als 200 wissenschaftliche Artikel. Und heute ist das meistzitierte Buch der Kunstgeschichte nicht etwa eines über Michelangelo, sondern Virtual Art, das ich vor 15 Jahren bei MIT Press publizieren durfte.

STANDARD: Gibt es, global gesehen, Beispiele für einen gelungenen Umgang mit digitaler Kunst?

Grau: In der Tate Modern in London oder im New Yorker Guggenheim Museum gibt es entsprechende Bemühungen. Das Asia Culture Center in Südkorea verknüpft digitale Gegenwartskunst mit der Kulturgeschichte Koreas. Nicht alle unsere Institutionen müssten sich wandeln, lediglich einige sich zu Kompetenznetzwerken zusammenschließen, um wenigstens die wichtigsten fünf Prozent digitaler Kunst zu erhalten.

STANDARD: Welche Gefahren sehen Sie für die Gesellschaft, wenn digitale Kunst an den Museen vorbeigeht?

Grau: Wenn wir sie nicht zugänglich machen, werden zunehmend Unternehmen wie Google den Kulturbegriff steuern. Mark Zuckerberg etwa plant, dass sich in fünf Jahren alle Facebook-User in virtuellen Räumen unterhalten. Da kommt dann die Kulturgeschichte der Immersion (des "Aufgesogenwerdens" durch Medien, Anm.) ins Spiel. Ich sehe das Facebook-Projekt eher als Dystopie, die man mit dem Wissen der Medienkunstgeschichte kritisieren muss, wie auch die Vision vom künstlichen Leben oder die Telematik. (Roman Gerold, 16.12.2017)