"Ein Burschenschafter ist aus mir trotzdem nicht geworden. Denn schon damals empfand ich dieses Milieu als eher abstoßend und lächerlich", schreibt Martin Pollack.

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Am 2. Oktober 1992 findet in Kirchberg am Wechsel ein großes Begräbnis statt. Beigesetzt wird Norbert Burger, eine Leitgestalt der rechtsextremen Szene in Österreich. Aktives Mitglied der Südtiroler Terroristen in den 1960er-Jahren, was ihm den Beinamen Bumser-Doktor einträgt, 1967 Gründer der Nationaldemokratischen Partei (NDP), die 1988 wegen nationalsozialistischer Wiederbetätigung verboten wird, 1980 Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen, bei denen er mit 140.000 Stimmen einen Überraschungserfolg erringt. Und, nicht zu vergessen, Mitglied der Wiener akademischen Burschenschaft Olympia, der bis heute eine Nähe zu rechtsradikalen Kreisen nachgesagt wird.

Foto: Privatarchiv Martin Pollack

Zur Trauerfeier für den "großen Sohn Deutsch-Österreichs", wie er in einer Grabrede gerühmt wird, sind fast alle gekommen, die im Handbuch des österreichischen Rechtsextremismus verzeichnet sind, Gerd Honsik ebenso wie Gottfried Küssel oder Otto Scrinzi. Unter den über 2000 Trauergästen ist auch der heutige FPÖ-Chef H.-C. Strache, der ein paar Jahre mit einer Burger-Tochter liiert war und im Haus des rechtsextremen Politikers ein und aus ging. Auf einem Video vom Leichenzug entdecke ich in den vor dem Sarg marschierenden Reihen ein bekanntes Gesicht: meinen Onkel Gunther aus Amstetten.

Ach, Onkel Gunther!

Ach, Onkel Gunther! Er trägt wie die Männer neben ihm eine violette Mütze und ein schwarz-rot-goldenes Band über der Brust – die Alten Herren der pflichtschlagenden Burschenschaft Olympia, die ihrem prominenten Bundesbruder, wie Burschenschafter einander nennen, die letzte Ehre erweisen. "Fiducit!", heißt es bei solchen Gelegenheiten in diesen Kreisen.

Gunther war Rechtsanwalt in Amstetten, so wie sein Vater, mein Großonkel, und dessen Bruder, mein Großvater. Die "Bastischen" waren alle Juristen und Burschenschafter: mein Vater, Dr. Gerhard Bast, der in der Gestapo Karriere machte, ebenso wie sein Bruder und noch weitere, entferntere Verwandte. Sie alle waren Angehörige der Germania zu Graz, nur Gunther, der Cousin meines Vaters, trat der Wiener Olympia bei, eine Verbindung, die sich noch heute stolz die "schärfste Burschenschaft Wiens" nennt, was man durchaus auch politisch verstehen kann.

In diesem Milieu, durchtränkt vom völkischen Geist Alter Herren, bin ich in den frühen Fünfzigerjahren aufgewachsen. Umgeben von Männern mit Schmissen, die das Zeugnis der Mensuren, die sie als Aktive, in Studentenjahren, geschlagen hatten, in ihrem Gesicht trugen. Sie blieben ihr Leben lang Burschenschafter und waren stolz darauf – so wie sie auch stolz darauf waren, nie dem Nationalsozialismus abgeschworen zu haben. Das eine war vom anderen nicht zu trennen, das begriff ich schon als Kind.

Linke Albumseite: "So sieht ein Abgeführter aus" steht auf dem der Rückseite des Fotos (oben) zu lesen, das Martin Pollacks Vater als Student nach einer Mensur in Graz (Germania) zeigt. Rechte Albumseite oben: Karte des Onkels an dessen Vater zum Stiftungsfest der "Olympia" am 12. 6. 1951 – unter den Unterzeichneten auch Norbert Burger. Foto darunter: Alte Herren und Aktive der Germania. Ganz links im Bild: der Großvater von Martin Pollack, 2. Reihe rechts mit Brille: sein jüngerer Bruder, Onkel Ernst. Unten rechts: Martin Pollacks Vater als Burschenschafter in vollem Wichs, er trat 1929, mit Studienbeginn, der Burschenschaft Germania zu Graz bei.
Montage: Der Standard

Wir sind Deutsche und wir ändern unsere Meinung nicht, auch wenn man uns noch so schikaniert und bedrängt, bekam ich oft zu hören. Wir bleiben unserm Deutschtum treu, mag da kommen, was will! Auf das wurde auch ich eingeschworen. Ich dürfe mein Deutschtum nie und nimmer verleugnen, das müsse ich ihr versprechen, sagte meine Großmutter manchmal. Omi gehörte natürlich keiner Burschenschaft an und hatte keine Schmisse, aber trotzdem war sie so etwas wie die Chefideologin der Familie.

Gepredigtes Deutschtum

Mit dem mir gepredigten Deutschtum konnte ich mit acht, neun Jahren zwar nicht viel anfangen, aber ich wusste bereits, dass damit gewisse Verhaltensmaßregeln verbunden waren: Wir Deutschen sind nicht verweichlicht und jammern nicht wie die Weiber! Wir stehen mannhaft zu unserer Überzeugung und pflegen, Gott behüte!, keinen Umgang mit Juden. Das bekam ich von der Großmutter, von Onkel Helmut (dem jüngeren Bruder meines Vaters) und von meinem Großonkel Ernst (Gunthers Vater) zu hören, in dessen Haus ich viel schöne Zeit verbrachte, geliebt und verwöhnt wie sonst keiner. Ich weiß nicht mehr, ob es die Großmutter oder Onkel Helmut war, die mir eröffneten, dass ich später einmal, als Student, "natürlich" einer Burschenschaft beitreten werde, das sei ich schon allein meinem Vater schuldig, den ich allerdings nie bewusst kennenlernte (er starb 1947 eines gewaltsamen Todes). Beitreten wäre nur natürlich, sozusagen naturgegeben. Wenn nicht der Germania zu Graz, dann der Olympia in Wien. Wahr und treu, kühn und frei, Olympia sei's Panier! Da war ich zwölf oder dreizehn.

Radikaler Deutschnationalismus und rabiater Antisemitismus, das waren selbstverständliche Elemente, die in meiner Familie nicht infrage gestellt wurden. Ich hatte schon damals den Eindruck, dass sie auch untrennbar mit der Zugehörigkeit zur Burschenschaft verbunden waren. Dort wurden diese Ansichten bestärkt und gefestigt. Gehe ich fehl in dieser Einschätzung? Wie das heute ist, wage ich nicht zu sagen, aber für damals galt das mit Sicherheit.

Wie tief verwurzelt der Antisemitismus in der Familie war, erfuhr ich, als ich vor ein paar Jahren auf Umwegen in den Besitz eines Teils des Nachlasses des Großonkels kam. Unter Briefen, alten Fotografien und Dokumenten fand ich ein Exemplar der Protokolle der Weisen von Zion, herausgegeben 1924. Es ist mit zahlreichen Unterstreichungen versehen, auf dem Vorsatzblatt hat mein Verwandter – er war sehr ordnungsliebend, ja pedantisch – auch das Datum vermerkt, wann er es erworben hat: am 8. 1. 1925. Zum Titel hat er handschriftlich das Wort "Freimaurer" hinzugefügt, also "Freimaurerprotokolle der Weisen von Zion", was in völkischen Kreisen wohl noch bedrohlicher klang.

Treu bis zum Ende

In der alten, zerlesenen Broschüre, eine der wichtigsten Quellen abstruser antisemitischer Verschwörungstheorien, von den russischen Zaren bis zu Hitler, fand ich einen Zettel des Großonkels eingelegt, der mir die Dauerhaftigkeit seiner Einstellung bestätigt. Demnach hat er sich dieselbe Lektüre fünfzig Jahre später noch einmal besorgt: Am 7. Februar 1977 bestellte der honorige Rechtsanwalt bei der Buchhandlung Reisinger in Amstetten gleich zwei Exemplare der Geheimnisse der Weisen von Zion (sic!). Da war er knapp neunzig. In dieser Familie, die auch meine war, ist man seinen Ansichten tatsächlich treu geblieben. Treu bis zum Ende.

"Bin nun fast allein in meinem Haus, bleibe aber bis zum (bitteren) Ende meinem Eid treu", heißt es in einem Brief, den ich im erwähnten Nachlass des Großonkels entdeckte. Absender war ein gewisser Jacques Vasseur in der französischen Kleinstadt Melun. Der Name sagte mir nichts, niemand von uns hatte Verbindungen nach Frankreich. Wikipedia gibt Auskunft, dass Jacques Vasseur ein französischer Kriegsverbrecher war, der mit der Gestapo kollaborierte. Als Chef der Hilfsgestapo in Angers war er für hunderte Verhaftungen, Deportationen und Morde verantwortlich.

Freude an der Folterung

Angeblich empfand er besondere Freude an der Folterung von Kämpfern der Résistance. Nach Kriegsende wurde er in Frankreich zum Tod verurteilt – in Abwesenheit, denn Vasseur war rechtzeitig untergetaucht. Jahrelang hielt er sich auf dem Dachboden seiner Mutter versteckt, bis er 1962 verhaftet und abermals zum Tod verurteilt wurde. Nachdem die Strafe später in lebenslängliche Haft umgewandelt wurde, saß er lange Zeit im Gefängnis von Melun ein. Von dort aus korrespondierte er mit meinem Großonkel.

Was hatte ein Provinzanwalt aus Amstetten mit einem französischen Kriegsverbrecher zu tun? Aus Vasseurs Briefen geht hervor, dass mein Großonkel ihn während der Haft und auch später großzügig unterstützte, vermutlich finanziell. Das konnte er sich leisten, er war ein gut verdienender Anwalt. Aber wie war er an den französischen Gestapoagenten geraten? Wer hatte den Kontakt hergestellt? Da kann ich nur spekulieren.

Der schwarze Humor der Olympia

Ich könnte mir vorstellen, dass es Norbert Burger war, der die beiden zusammenbrachte. Burger war in internationalen rechts- extremen Kreisen bestens vernetzt – und er war ein Bekannter meines Großonkels. Auch von Burger finden sich Spuren im Nachlass. Etwa die Promotionsanzeige von 1957 oder, wichtiger, eine persönliche Einladung der Burschenschaft Olympia – Laetitia zum 92. Stiftungsfest am 10. November 1951. Der Festcommers, zu dem die Burschenschaft den Großonkel einlud, fand passenderweise im Restaurant "Führer" im achten Wiener Gemeindebezirk statt. Einen gewissen Sinn für schwarzen Humor kann man den Olympiern nicht absprechen. Haben sich Norbert Burger und mein Großonkel damals beim Führer getroffen?

Zur historischen Erläuterung: Nach dem sogenannten "Anschluss" im März 1938 war die Olympia wie alle Burschenschaften offiziell aufgelöst und in eine nationalsozialistische Vereinigung eingegliedert worden, was allerdings nichts an der nationalsozialistischen Gesinnung der deutschnationalen Burschenschaften ändern konnte, die nach 1933 oft als Tarnorganisationen für die verbotenen Nationalsozialisten gedient hatten.

Irgendwie die Hände im Spiel

1951 wurde die Olympia als Burschenschaft wiedergegründet, wobei sie ihre ersten Mitglieder wohl aus der Akademischen Tafelrunde Laetitia bezog, weshalb sie sich anfangs auch Burschenschaft Olympia – Laetitia nannte. Mein Onkel Gunther gehörte zu den ersten Mitgliedern der wiedererstandenen Olympia, so wie Norbert Burger. Und Gunthers Vater, mein Großonkel, Rechtsanwalt in Amstetten, hatte vermutlich auch irgendwie die Hände im Spiel, weshalb er zum Festcommers "geziemend" eingeladen wurde. Ehre, wem Ehre gebührt.

Mit Jacques Vasseur blieb der Großonkel übrigens auch nach dessen Freilassung Anfang der 1980er-Jahre in Verbindung. 1985 schrieb ihm Vasseur aus Heidelberg, dorthin war er nach seiner Freilassung gezogen, zu seiner deutschen Frau, die er noch während der Haft geheiratet hatte: "Heidelberg, den 7. Hornung

... Einen sehr herzlichen Dank für alles, was Sie für mich während all der schweren Jahre getan haben, alles Gute, in treuer Verbundenheit, immer Ihr sehr dankbarer Jacques Vasseur."

Das Vornamenbuch der Vasseurs

"Hornung" ist bekanntlich der alte deutsche Name für Februar, den besonders deutschnationale Turner, Burschenschafter und Nazis, was oft auf dasselbe hinausläuft, gern verwendeten. Für einen Franzosen allerdings eher ungewöhnlich. Aber in der Haft hatte sich Vasseur ein Hobby zugelegt, das er offenbar mit seiner Frau, von Beruf Bibliothekarin, teilte: die Erforschung deutscher Vornamen. Die Mühe sollte sich lohnen. 1982 gab der französische Gestapoagent und Kriegsverbrecher gemeinsam mit seiner Frau in einem renommierten Münchner Ratgeber-Verlag ein einschlägiges Werk heraus: Goldmanns großes Vornamenbuch. Autoren: Jacques und Johanna Vasseur. Das Buch erlebte mehrere Auflagen und ist heute noch lieferbar.

Was so Verbindungen, die über Burschenschaften zustande kommen, nicht alles auf den Weg bringen.

Trinkkultur

Es gibt in meiner Erinnerung noch etwas anderes, was untrennbar mit Burschenschaften zusammenhängt, nämlich die in dem Milieu herrschende Trinkkultur, in der Bier im Mittelpunkt steht. Und zwar literweis' Bier. Diese Kultur haben sie versucht, auch mir einzutrichtern, konkret mein Onkel Helmut, ebenfalls Anwalt in Amstetten. Wenn er beruflich in Linz zu tun hatte, wo ich zu Haus war, lud er meine Mutter und mich manchmal zum Abendessen ein. Das artete in der Regel in ein veritables Besäufnis aus, Bier und Schnaps, Schnaps und Bier, bis ich buchstäblich abgefüllt war und nicht mehr konnte. Meine Mutter wandte hin und wieder zaghaft ein, jetzt sei es aber genug, doch der Onkel wischte solche Einwände männlich weg und prostete mir wieder zu, ad profundam! bis zum Boden des Glases – ein wahrer Deutscher kneift nicht, auch nicht beim Saufen, das muss ein angehender Burschenschafter beizeiten lernen. Das gebietet die Bierehre. Diese Lektionen erhielt ich schon früh, mit 14, 15, 16 Jahren ...

Lächerlich, dieses Getue

Ein Burschenschafter ist aus mir trotzdem nicht geworden. Denn schon damals empfand ich dieses Milieu als eher abstoßend und lächerlich, dieses Getue um Mensuren und Schmisse, um Deutschtum und deutsche Bierehre. Diese Einschätzung musste ich in letzter Zeit – ja, ich muss sie heute, leider – revidieren. Haben manche Experten für den Rechtsextremismus noch vor kurzem eine Krise, ein Rückzugsgefecht der deutschnationalen Burschenschaften vorhergesagt, so müssen wir jetzt feststellen, dass diese optimistische Annahme irrig war.

Im Gegenteil, die Burschenschaften erleben einen ungeahnten Aufschwung und werden nach Angelobung der neuen Regierung noch mehr politischen Einfluss gewinnen, als sie jetzt schon haben. So lächerlich mir ihr ganzes Gehabe, damals wie heute, anmutet – lächerlich sind die aus diesem Milieu kommenden Leute und ihre Netzwerke nicht. (Martin Pollack, 16.12.2017)