Bei Buben gehört eher der institutionelle Bereich zu den Gefahrenzonen, seien es konfessionelle Vereine, Sportvereine oder Internate. Dort von Generation zu Generation durchgeführte Aufnahmerituale werden oft lange nicht als Gewalt erkannt – auch von den Betroffenen selbst nicht.

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Romeo Bissuti, Klinischer und Gesundheitspsychologe, Psychotherapeut, Leiter des Männergesundheitszentrums Men und Obmann von White Ribbon Österreich: "Von einer Frau missbraucht worden zu sein kann ein doppeltes Tabu sein."

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Viele Frauen brechen gerade mit einem hartnäckigen Tabu, während Männer noch schweigen. Seit der weit- und folgenreichen Kampagne #MeToo sprechen unzählige Frauen über erlebte sexuelle Gewalt, Erfahrungen, unter denen auch Männer leiden. Laut sogenannten Dunkelfelddaten auf Basis von Befragungen zu sexueller Gewalt sind vier bis acht Prozent der männlichen Bevölkerung betroffen. Geht es um sexuelle Belästigung, sind die Zahlen höher: Eine Studie des Bundesministeriums für Familie aus dem Jahr 2011 spricht von 27 Prozent von 1.042 befragten Männern, die mit sexueller Belästigung konfrontiert waren – im Vergleich zu 74 Prozent bei Frauen. Von einer exakten Datenlage zu sexueller Belästigung bis hin zu schwerer sexueller Gewalt bei Männern wie auch bei Frauen kann aber keine Rede sein.

Bei Befragungen zu Gewalt spielt immer eine wesentliche Rolle, ob sie als solche erlebt wurde, und besonders bei sexueller Gewalt sind die Wahrnehmungen von Grenzverletzungen unterschiedlich. Bei Burschen und Männern kommen zusätzliche Hürden hinzu. "Bei sexualisierter Gewalt gibt es erfahrungsgemäß eine große Dunkelziffer, gerade bei Männern und Burschen ist die Scham, darüber zu reden, nochmal größer", weiß Romeo Bissuti, Leiter des Männergesundheitszentrums Men in Wien. Opfer von Gewalt geworden zu sein, das passe einfach für viele noch immer nicht in die Vorstellung von Männlichkeit. Werden sie es doch, sind es wieder Klischees, die es erschweren, darüber zu reden – oder auch nur die Gewalt als solche zu erkennen.

Sprechbarrieren für Männer

Ungewollte Berührungen, blöde Anmache, Übergriffigkeiten, "das kennt vermutlich jede Frau, wenn sie genau hinschaut", sagt Bissuti. Frauen müssen also zwangsläufig lernen, mit der Sexualisierung ihres Körpers umzugehen, auch in der Arbeitswelt. "Männer kennen das in der Dichte und Tiefe nicht", meint der Psychologe. Männer würden stattdessen eher darunter leiden, dass ihr Körper eng an Leistung geknüpft wird, als "Arbeitskörper" gilt, der keine Schwächen zeigen darf. Werden Männer aber auch sexualisiert und Opfer von übergriffigem Verhalten, fürchten sie oft die Reaktionen, wenn sie darüber reden.

"Ein Mann kann sexuell immer und will immer – in diese Richtung gehen die Stereotypien", erklärt Bissuti die Sprechbarrieren von Männern, die sich durch das Geschlecht des Täters nochmal verfestigen können: Ist es eine Frau, von der er belästigt wurde, muss er Kommentare befürchten wie "Das hätte dir doch gefallen müssen". Ist es ein Täter, tauchen homophobe Bilder oder hypermaskuline Männerbilder auf, nach denen man den Täter doch gleich "verdreschen" hätte sollen, beschreibt Bissuti die schwierige Lage für männliche Betroffene.

Gefährliches Machtgefälle

Menschen, die ihre Position missbrauchen, sind aber sowohl für Frauen und Mädchen als auch für Männer und Burschen eine Gefahr, sagt er. "Passieren sexuelle Übergriffe und Gewalt dort, wo es ein starkes Machtgefälle gibt, erleben Männer in gleicher Weise wie Frauen einen unmittelbaren Schock und Traumatisierung." Während solche Strukturen am Arbeitsplatz bei Männern und Frauen gleichermaßen vorkommen können, sehen die Hochrisikobereiche für Kinder je nach Geschlecht unterschiedlich aus. Bei Mädchen liegen diese eher im sozialen Nahbereich, also in der Familie oder in der weiteren Verwandtschaft.

Bei Buben ist es hingegen eher der institutionelle Bereich: Internate, konfessionelle Vereine oder Sportvereine. "Darunter fallen etwa auch Aufnahmerituale", konkretisiert Bissuti. Rituale wie das sogenannte Pastern, die infolge der Aussagen von Nicola Werdenigg im STANDARD publik wurden. Bissuti: "Solche Rituale gehören für viele Burschen zu einer 'normalen' männlichen Sozialisation: Zumutungen aushalten, die Goschn halten, nicht weinen, nichts anmerken lassen." Mit einer solchen Sozialisation würden auch blinde Flecken beim Erkennen von sexueller Gewalt produziert. "Man sagt sich 'Mei, so war's halt', vielen fällt erst auf, dass sie Gewalt erlebt haben, wenn andere darüber reden – und dann diese Erlebnisse als sexuelle Gewalt benennen."

Gewalt im Erziehungsbereich

Auch bei Buben und Männern sind die Täter vorwiegend Männer. Von den Personen, die wegen sexueller Gewalt angezeigt und auch verurteilt werden, sind 95 bis 98 Prozent Männer. Doch auch hier ist die Datenlage dürftig. In einer quantitativen, nicht repräsentativen Interviewstudie des Instituts für Männer- und Geschlechterforschung in Graz berichtete von 31 betroffenen Männern oder Burschen etwa ein Drittel von sexueller Gewalt in der Kindheit oder Jugend auch durch Frauen. Bissuti bezweifelt, dass etwa die Zahl der Verurteilungen die Realität vollends abbilden würde: "Von einer Frau missbraucht worden zu sein kann ein doppeltes Tabu sein und wird womöglich verschwiegen oder erst auch gar nicht als Gewalt erkannt." Täterinnen könnten etwa Frauen sein, die selbst Gewalt erlebt haben und durch die Tat diese Gewalt normalisieren wollen, erklärt der Psychologe, auch reine Machtlust könnte dahinterstecken. Frauen könnten sexuelle Gewalt auch über den Erziehungsbereich ausüben.

Doch trotz möglicher gewaltverschleiernder Phänomene hält sich zwischen Täterinnen und Tätern nicht annähernd die Waage. Erklärungen dafür führen Bissuti wieder zu stereotypen Geschlechterrollen – wie schon beim unterschiedlichen Umgang mit beziehungsweise der Fähigkeit zur Einordung und dem Sprechen über sexuelle Gewalt. Viele Frauen wüssten, wie es sich anfühlt, Opfer von sexuellen Gewaltformen zu sein, "solche Erlebnisse sensibilisieren eher für die Sicht von Betroffenen, als dass man sich mit der Macht von Übergriffen identifiziert".

Hinzu komme, dass die weiblichen Rollenvorstellungen nicht auf Aggression, Beherrschen oder Statusdenken ausgerichtet seien – sondern auf fürsorgliche Komponenten wie Empathie und Einfühlungsvermögen. Das schützt Frauen in einem weitaus größeren Ausmaß als Männer davor, solche psychischen Störungen zu entwickeln, die sich in sexueller Gewalt äußern, meint Bissuti. "Wir wissen, dass die Sozialisation von Frauen eher zu anderen psychischen Problemen führt, etwa zu mangelndem Selbstvertrauen, Essstörungen und anderem mehr."

Sexualisierte Arbeitsatmosphäre

Wie umfassend die Vorstellungen vom Mann- und Frausein beim Thema sexuelle Gewalt sind, zeigt auch eine Schweizer Studie über sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz der Universität Lausanne. Sie konnte zeigen, welches Arbeitsklima Männer und auch Frauen eher zu sexuell übergriffigem Verhalten neigen lässt. Beide tendieren in einem sexualisierten Arbeitsklima, in dem etwa sexuell konnotiere Sprüche zum Alltag gehören, eher zu belästigendem Verhalten.

Für Frauen allein konnten sie herausfinden: Wenn sie mehrheitlich mit Männern in einem Betrieb zusammenarbeiten, zeigen sie häufiger belästigendes Verhalten, was auch als eine Anpassung an herrschende Männerbilder und männlich konnotierte Verhaltensweisen interpretiert werden kann. Männer, so die Studie, neigen dann mehr zu Übergriffen, wenn sie sich stark mit der Gruppe der Männer identifizieren und das Gefühl haben, Frauen nehmen Männern am Arbeitsplatz Macht weg. Frauen, die somit die traditionelle Ordnung und Vorstellungen vom machtbewussten Mann und der fürsorglichen Frau zu bedrohen scheinen.

Obwohl diese Ordnung Täterinnen in Statistiken kaum aufscheinen lässt, können Frauen natürlich auch Täterinnen sein, betont Bissuti. "Für Betroffene ist es wirklich nicht hilfreich zu sagen, dass ihr Fall in einer Statistik praktisch nicht aufscheint." Therapeutinnen und Therapeuten würden schließlich allen Betroffenen Mut machen wollen, egal ob die Gewalt von einem Mann oder einer Frau ausging. "Es kommt nicht auf die statistische Größe an, sondern auf die persönliche Betroffenheit." (Beate Hausbichler, 10.3.2018)