Wien – Der OSZE-Beauftragte für Medienfreiheit, Harlem Desir, spricht sich für einen Journalismus aus, der in Migrationsfragen ein möglichst "vollständiges Bild der komplexen Realität" zeichnet. Das heiße, faktenbasiert auf "Vorurteile oder Ängste" zu reagieren. Gleichzeitig sollen aber auch die Probleme beleuchtet werden, die mit Migration einhergingen, sagte Desir im APA-Interview.

"Migration ist ein Gebiet, wo Fakten und Wahrnehmung sehr häufig auseinanderklaffen", sagte Desir. Eine rezente Studie zeige etwa, dass die Menschen in Europa die Zahl der Migranten in ihrem Land systematisch und deutlich überschätzen. "Es passiert auch sehr häufig, dass die Angst vor Einwanderern in Gegenden, wo diese kaum präsent sind – in kleinen Dörfern oder kleinen Städten etwa -, viel größer ist als in den Metropolen, wo die meisten Migranten leben."

Kluft zwischen Wahrnehmung und Realität

Diese Kluft zwischen Wahrnehmung und Realität gelte es zu überwinden, wobei die Medien eine besondere Verantwortung hätten. Mediale Bilder könnten Gefühle auslösen, etwa "das Gefühl, eine 'Invasion' zu erleben und vor einer nicht kontrollierten Situation zu stehen". Gleichzeitig könnten sie auch das Gegenteil erreichen: Das Bild eines ertrunkenen syrischen Babys habe 2015 eine Welle des Mitgefühls und der Solidarität ausgelöst, so Desir.

"Die Medien stehen vor einer schwierigen Herausforderung." Einerseits müssten sie offen sein für die Probleme, die mit der "massiven Ankunft von Migranten" verbunden seien. Andererseits dürften sie aber auch nicht vergessen, dass es um menschliche Schicksale gehe. Die Antwort auf diese Herausforderung sei ein "ethischer Journalismus", so Desir. Darunter versteht er eine Berichterstattung, die mit überprüften Daten und Fakten arbeitet und verschiedene Blickwinkel berücksichtigt. Man müsse vor allem auch auf die Bevölkerung hören, die Flüchtlinge oder Migranten aufnehme, und auch negative Entwicklungen thematisieren, etwa das Schlepperwesen. Die komplexe Realität müsse möglichst vollständig abgebildet werden, so Desir.

Ethischer Journalismus als Antwort

Es sei aber oft kompliziert, mit "Zahlen und Fakten" gegen "Vorurteile und Ängste" zu argumentieren. Manchmal sei es "notwendig, in der Lage zu sein, einen Gegendiskurs zu produzieren". "Und da ist das Risiko groß, dass das als politisch-korrekter Wunsch wahrgenommen wird, die Probleme kleinzureden. Hier liegt die Schwierigkeit für Journalisten." Eine Antwort auf die "Hass-Kampagne gegen die Einwanderer, auf die Vereinfachung und Demagogie" könne jedenfalls nur ein unabhängiger, ethischer und freier Journalismus liefern, gibt sich Desir überzeugt.

Harlem Desir ist seit Juli diesen Jahres OSZE-Beauftragter für Medienfreiheit. Zuletzt war er Staatssekretär für Europafragen im französischen Außenministerium. Die Bestellung des französischen Sozialisten (PS) zum Medienfreiheitsbeauftragen war nicht unumstritten. Laut Medienberichten war der langjährige Europaparlamentarier (1999-2014) und kurzzeitiger PS-Vorsitzender (2012-2014) insbesondere Russland zu links.

Besorgniserregende Lage in Russland

Dass sich die Verhältnis zu Russland weiterhin schwierig gestaltet, zeigte sich auch im APA-Interview. Das russische Gesetz, das Medien als ausländische Agenten einstuft, sei "sehr schlecht", die Lage vieler unabhängiger Medien "sehr besorgniserregend", sagte Desir. Er hoffe aber, dass er in dem "herausfordernden Dialog" mit Russland in den nächsten Monaten ein Stück "vorankommen" werde.

Desir war als Europaparlamentarier ein großer Befürworter der Sanktionen gegen Österreich im Jahr 2000. Auf die Neuauflage der schwarz-blauen Koalition angesprochen, wollte sich Desir nicht konkret äußern. "Ich bin heute in einer neuen Funktion. Also würde ich meine Äußerungen von damals, die zu einer anderen Zeit und in einem anderen Kontext gefallen sind, nicht wiederholen. Ich werde mit Österreich so zusammenarbeiten wie mit allen anderen OSZE-Staaten auch." (APA, 20.12.2017)