Ruheloser Blick nicht nur auf die Geschichte: Autor Stefan Zweig während seiner ersten Brasilien-Reise 1936.

Foto: Stefan Zweig Centre Salzburg

Wien – Wer jemals Stefan Zweigs "Sternstunden der Menschheit" als Leser durchlebt hat, der möchte sich nicht ausmalen, wie es um minder bestirnte Zeitspannen bestellt gewesen ist. Zweigs Sammlung von Erzählungen umfasst in ihrer endgültigen Gestalt 14 Prosastücke. In ihnen wird nicht so sehr der anerkanntesten oder bedeutendsten Gestalten der Weltgeschichte gedacht. Es ist laut Zweig vielmehr "die Geschichte" selbst, die dem Leser in ihrer tätigen Form gegenübertritt.

Sie, und niemand sonst, habe als die "größte Dichterin und Darstellerin aller Zeiten" zu gelten. Ihrem Autor bleibt es lediglich überlassen, das, was die Geschichte ohnehin aus freien Stücken preisgibt, an das Publikum weiterzureichen. Stefan Zweigs (1881–1942) Bescheidenheit in Ehren. Man braucht ihr durchaus nicht über den Weg zu trauen. Zu bizarr scheinen die Denkwürdigkeiten, die Zweig von 1927 an unter dem täuschenden Titel "Sternstunden" sammelte.

Im ersten Band der nunmehr bei Zsolnay erscheinenden, mustergültig edierten Salzburger Ausgabe ("Das erzählerische Werk") begegnet man den traurigsten Vertretern der Mediokrität. Was lässt sich – mit Blick auf das Kriegshandwerk – Erhebendes von dem Franzosen Grouchy berichten, der anno 1815 seinem obersten Kriegsherrn Napoleon Bonaparte die Entscheidungsschlacht von Waterloo gründlich vermasselte?

Der Fall verdient Aufmerksamkeit (Die Weltminute von Waterloo). Grouchy, ein braver Befehlshaber der zweiten Reihe, war mit einem Teil der französischen Grande Armée aufgebrochen, in Belgien die Preußen zu stellen. In der Zwischenzeit wollte Napoleon die Engländer Wellingtons entscheidend niederwerfen.

Grouchys Aufgabe hätte einer doppelten Anstrengung bedurft. Sein Korps wäre ausersehen gewesen, die Preußen von den Briten separiert zu halten. Umgekehrt hätte er, als die Schlacht bei Waterloo bereits tobte, seinem Kaiser schnurstracks zu Hilfe eilen müssen, auch ohne Erhalt einer dezidierten Anweisung. So aber verlor Bonaparte Kampf und Krone, während sein tüchtiger Korpskommandant das ihm anvertraute Kontingent ohne Feindkontakt nach Hause führte.

"Werkstatt Gottes"

Zweig schildert das Versagen eines subalternen Geistes mit der Milde des Historikers, der Zauderer wie den armen Grouchy mitmächtigeren Instanzen im Bunde weiß. Die Geschichte als "geheimnisvolle Werkstatt Gottes" (Goethe) bedient sich gelegentlich auch durchschnittlicher Kräfte, um besonders verblüffende – oder auch verheerende – Wirkungen zu zeitigen. Zweig, den Emigranten ohne Trost, treibt eine wenig beruhigende Erkenntnis um. Stets verdichten sich Entscheidungsprozesse zu Weltstunden, die sich ihrerseits zu Sekunden komprimieren lassen.

Vielleicht hätten 1453 die Mauern von Byzanz dem Ansturm der Truppen des Osmanischen Reiches standgehalten. Eine Masse von 150.000 Kriegern hatte Sultan Mahomet gegen die Wälle geschickt. Dem Ansturm war eine wilde Kanonade vorausgegangen. Dennoch: Die rund 8000 oströmischen Verteidiger, unter ihnen viele Genuesen, hielten der erdrückenden Übermacht stand. Das Schlachtenglück schien ein letztes Mal aufseiten der Christen zu stehen. Da entdeckten Mahomets Sturmscharen, zu ihrem eigenen grenzenlosen Erstaunen, eine Pforte im Festungsring, deren verschwindend kleine Tür sperrangelweit offen stand.

Prompt wurde Byzanz, von Resteuropa im Stich gelassen, dem Erdboden gleichgemacht. Die stolze Hagia Sophia widmeten die Sieger flugs in eine Moschee um.

Spürbar wehrt sich Stefan Zweig, der Miniaturenschreiber, gegen die intellektuelle wie moralische Zumutung, Denkwürdigkeiten der Weltgeschichte bloß auf das Wirken des Zufalls zurückzuführen. Umgekehrt treibt keine übergeordnete Instanz die geschichtlich Handelnden dazu, in ihr Unglück zu rennen. Es scheint, als müsse eine historische Situation endgültig reifen, um dann, in der Sekunde des Kollapses, auch mit dem kleinsten Anstoß vorliebzunehmen.

Schuldhafte Dimension

So ergeht es z. B. dem unglücklichen Kapitän Scott, der 1912 im ewigen Eis der Antarktis erfriert, ohne der Erste gewesen zu sein, der den Südpol erreicht hat (Der Kampf um den Südpol). Zweig, der Meisterstilist des dynamisierenden Verbgebrauchs ("hinabretten", "entraffen", "versargen"), skizziert ein Ethos des Versagens. Dessen schuldhafte Dimension besteht vornehmlich im Verfehlen des rechten Augenblicks.

Für ihr Unglück verantwortlich wird man die handelnden Personen, unter ihnen Gesinnungsethiker wie der Römer Cicero, darum nicht nennen wollen. In unseren nüchternen Zeiten besteht Zweigs Botschaft im Hinweis auf die Ohnmacht auch solcher Persönlichkeiten, deren bestes Wissen mit der Zuspitzung einer Situation nicht Schritt hält. Zaudern und Zögerlichkeit sind geschichtsmächtig. Diesen Umstand wird dieser Tage vielleicht auch ein sozialdemokratischer Ex-Kanzler bedenken, der erleben musste, wie ein anderer, jüngerer als er Neuwahlen vom Zaun brach. (Ronald Pohl, 21.12.2017)