Wien/Ankara – Muss man die türkischen Dichter an die Kandare nehmen? Erhan Altan sagt, ja. Im Prinzip. Der in Wien und Istanbul lebende Literaturkritiker und Übersetzer hat sich in den Kopf gesetzt, die neue Dichtergeneration in der Türkei mit dem österreichischen Virus zu infizieren. Die österreichische Literatur sei sehr formbewusst, etwas Durchdachtes, so sagt Altan. Die türkische Erzählkunst dagegen fließt gern dahin und in mehreren Narrativen. "Unter Literatur versteht man immer Gefühle", erklärt er. Eine Gebissstange mag da bisweilen nicht schaden.

Altan hat das Projekt einer "österreichischen Bibliothek" in der Türkei begonnen. Es sind meist kleine, sorgsam übersetzte Werke moderner und zeitgenössischer Autoren. Der sechste Band ist gerade erschienen und findet einige Aufmerksamkeit im türkischen Literaturbetrieb. Zugunruhe, ein – wie der Untertitel heißt – "Album Wiener Dichter", wurde diese Woche etwa in dem Online-Literaturforum edebiyathaber besprochen und ist der kleinen Auflage wegen bei manchen Onlineshops derzeit schon vergriffen.

Verleger ist der junge türkische Dichter Cihan Nazim Beken

In Zugunruhe versammelt Erhan Altan 15 Dichter, von Ann Cotten bis Franz Josef Czernin. Zu jedem Gedicht gibt es einen einführenden Kommentar sowie ein Interview mit dem Autor. Erschienen ist der Band im Verlag Dünyadan Çikis (Ausweg aus der Welt). Der Verleger selbst, der 28 Jahre alte Cihan Nazim Beken, gilt als einer der vielversprechendsten jungen türkischen Dichter.

Mit seiner österreichischen Bibliothek wendet sich Altan in erster Linie an Literaturschaffende in der Türkei. Das Publikum ist also klein, mehr als 300 Exemplare eines Gedichtbands werden in der Regel kaum verkauft. Dennoch ist das Interesse an österreichischer Literatur vor allem in der Metropole Istanbul sichtbar. Buchhändler rücken gern Übersetzungen von Thomas Bernhard oder jüngst auch Heimrad Bäcker – einem anderen Autor der Altanschen Bibliothek – ins Schaufenster. Österreichische Literatur in der Türkei ist wohl auch ein willkommener Kontrapunkt zu den politischen Spannungen zwischen beiden Ländern.

Bände zu Oskar Kokoschka und H. C. Artmann in Planung

Die "Avusturya Kitapligi" – die "österreichische Bibliothek" – startete 2012 mit Josef Winklers Natura Morta ("Natürmort") im Istanbuler Verlag Pan. Altan gab dann Gedichte von Ernst Jandl unter dem Titel Rache der Sprache ("Dilin Intikami") und übersetzt von Hayati Yildiz heraus. Es folgte ein Band ausgewählter Gedichte von Friederike Mayröcker "Kindersommer"/"Çocuk Yazi", übersetzt von Burak Özyalçin. Dann wechselte Altan zu Dünyadan Çikis in Adana. Das Tempo der Neuerscheinungen soll nun höher werden. Nach Heimrad Bäckers Nachschrift ("Tutanak"), Andere Menschen ("Baska Insanlar") von Peter Waterhouse und dem Dichteralbum Zugunruhe sind für nächstes Jahr gleich drei Bücher geplant: Die träumenden Knaben von Oskar Kokoschka, ausgewählte Gedichte von H. C. Artmann und der Aphorismenband Sätze von Hans-Jost Frey und Franz Josef Czernin.

Die österreichische Bibliothek soll über die Jahre wachsen. Am Ende, so erklärt Altan, werden Grundwerke der österreichischen Literatur, die wahrscheinlich nicht auf Türkisch erschienen wären, einem Autorenpublikum zugänglich sein. "Ich will türkische Dichter mit einer Literatur anstecken, die vor allem auf Denken basiert", sagt Altan. Er nennt es sein Lebensprojekt.

Umbrüche in der türkischen Literatur sind bereits seit Jahren zu beobachten. Experimentelle Darstellungen begannen gegen 2003. Neben Nazim Beken zählen Efe Murad, Mehmet Davut Özdal und Murat Celik zu den Vertretern dieser progressiven neuen Dichtkunst in der Türkei. Das Narrative, das plan Erzählerische, haben sie hinter sich gelassen. (Markus Bernath, 20.12.2017)