Der Millenium Park am Stadtrand von Astana ist das derzeit größte Stadtentwicklungsgebiet Kasachstans.

Foto: Wojciech Czaja

Tausende Menschen, die heute hinter Bauzäunen und Erdhügeln leben, werden nächstes Jahr zwangsabgesiedelt und enteignet.

Foto: Wojciech Czaja

Um 13.25 Uhr fährt der Schulbus an den Straßenrand heran, ohne Blinken, die Straße ist ohnehin menschenleer, und bleibt mitten im Nirgendwo stehen. Eine Horde von Schulkindern springt heraus, am Rücken große Schultaschen, in der Hand ein paar Beutel, zwängt sich durch die kleinen Luken im silberfarbenen Bauzaun und verschwindet nach wenigen Sekunden hinter den Kulissen der Baustelle Astana.

Der Millenium Bulvar im Südosten der vor 20 Jahren neugegründeten Hauptstadt ist das derzeit größte Stadtentwicklungsgebiet Kasachstans. Hier entsteht eine vollkommen neue Stadt – hier, wo derzeit nur Steppe ist und niemand wohnt, werde ich am nächsten Tag im Stadtplanungsamt Astana Genplan erfahren. Damit soll der Plan von Präsident Nursultan Nasarbajew, der sich im Norden des Landes mithilfe des Londoner Architekten Sir Norman Foster seine eigene Hauptstadt baut, ein vorläufiges Grande Finale bekommen.

Wohin sind die Kinder verschwunden? Der große Bulvar ist längst asphaltiert, die Gehsteige sind gepflastert, die Zebrastreifen aufgemalt, die Verkehrszeichen in die Erde gerammt, die hübschen Eisengeländer an Ort und Stelle gebracht, ja sogar die Mistkübel und Fußgängerampeln harren bereits ihrer ersten Benützung. Und hinter dem löchrigen Bauzaun, da ist nichts. Nur Massen von Sand und Staub und Erde.

Neuer Millenium Park

Wohin also? Kaum hat man die ein paar Meter hohen Erdhügel erklommen, eröffnet sich von da oben ein Panoptikum von Häusern, Datschen, Bauernhöfen, gespannten Wäscheleinen und zugewucherten Obst- und Gemüsefeldern. Die meisten Menschen haben sich irgendwann in den 1970er-, 1980er-, 1990er-Jahren angesiedelt, als die Stadt noch Zelinograd hieß und das Zentrum in zehn Kilometern Entfernung lag. Mitten in der Steppe, fernab von Infrastruktur und Bauvorschriften, schufen sie sich ein leistbares Leben auf Selbstversorgerbasis.

"Manche von uns wohnen hier legal, manche illegal, wie das halt so ist", sagt eine Frau, die gerade ihr kleines Kartoffelfeld beackert und anonym bleiben möchte, da sie sonst fürchtet, Schwierigkeiten zu bekommen. "Wir haben das große Glück, dass es für unser Haus offizielle Pläne gibt, also wird man uns den Marktpreis rückerstatten, aber was wird das schon sein?" Viele ihrer Nachbarn, meint sie, hätten keine Papiere. Sie werden sich ihrem Schicksal stellen müssen. Sie werden enteignet.

Die Zukunft hat bereits Gestalt angenommen. Am Straßeneck Tauelsizdik Avenue und Nazhimedenov-Straße, 1500 Meter weiter westlich, gleich neben dem Kasachischen Nationalmuseum, hängen Visualisierungen des neuen Millenium Park, so der offizielle Name des Quartiers. Entlang der Straße wird gerade die Betontrasse für die neue Lightrail in Hochlage errichtet. Und hinter der kleinen, abgefuckten Datscha der Kartoffelfrau ragt bereits der neue, gläserne Hauptbahnhof Nurly Zhol in den Himmel.

Mitten im Geschehen

Die beteiligten Bauunternehmen stammen zum überwiegenden Teil aus China und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Hinter einem der silberfarbenen Bauzäune stehen die Lkws, die Bagger, die Planierraupen. Auf dem Tor sind die chinesischen Schriftzeichen für China, Bauen und Baufirma zu sehen. Als ich ein Foto von den Bürocontainern mache, läuft ein Mann hinaus aufs Grundstück, mir hinterher. Mein Chauffeur ist schneller.

Am nächsten Tag im Stadtplanungsamt Astana Genplan, das überraschenderweise nicht in der Neustadt, sondern im alten Stadtzentrum von Zelinograd untergebracht ist. "Das kann nur ein Zufall gewesen sein", versichert mir Alibajew Maulet Biljalowitsch, Leiter der Planungswerkstatt bei Genplan. "Tatsache ist: Das, was Sie gesehen haben, sind illegale Häuser, die hier niemals hätten errichtet werden dürfen. Aber das sind nur ganz wenige. Im Grunde genommen wohnt hier niemand."

In den kommenden Jahren, so Biljalowitsch, soll die "Steppenlandschaft" konvertiert und zu einem "florierenden Businessquartier mit schönen Wohnhäusern" ausgebaut werden. Geplant seien Radwege und große Parkanlagen mit Brunnen. Dann werde sich die Stadtbevölkerung von 800.000 Einwohnern, die heute in Astana leben, auf über 1,2 Millionen vergrößern. Und dann werde auch der neue Hauptbahnhof nicht mehr am Stadtrand liegen, sondern quasi mitten im Geschehen.

Green City

"Unser Präsident hat uns die Aufgabe gestellt, Astana zu begrünen und noch attraktiver zu machen", erklärt Biljalowitsch. "Dazu gibt es zwei lokale Schwerpunkte, und zwar zum einen die Gegend rund um den neuen Hauptbahnhof und zum anderen das Gelände im Süden der Stadt, auf dem wir bis September die Expo ausgerichtet haben." Die Rede ist von einer Green City, einem Hightechcluster, einem Technology-Hub, von einer Bildungs- und Kulturmetropole, vom neuen internationalen Finanzzentrum Zentralasiens.

Und dann präsentiert Biljalowitsch einen riesigen Stadtplan, auf dem Astana in 129 Sektoren unterteilt ist. Die in der dichtbevölkerten Stadtmitte sind etwas kleiner, die an den dünner besiedelter Stadträndern etwas größer. In jedem einzelnen dieser Quadranten, die von mehrspurigen Straßen und Magistralen eingefasst sind, werden später einmal 10.000 Menschen leben. Die Kartoffelfrau auf dem Erdhügel, die heute keine Adresse mehr hat, wohnt in Sektor 118. In Klammer steht: 134 Hektar.

"Die Planungsweise erinnert ein wenig an die Retortenstädte Brasília, Pretoria, und Chandigarh", sagt Rolandas Kliučinskas, Geschäftsführer von Vilnius Architects, einem der erfolgreichsten Architekturbüros Kasachstans mit Sitz in der ehemaligen Hauptstadt Almaty, knapp 1000 Kilometer weiter südlich. "Bloß waren all diese historischen Beispiele deutlich besser und lebensqualitativ hochwertiger geplant. Was nützen einem Brunnen, Parkbänke und Radwege, wenn acht Monate im Jahr Winter ist und die Lufttemperatur 40 Grad unter dem Gefrierpunkt liegt?"

Alibajew Maulet Biljalowitsch, der Herr bei Genplan, drückt mir bei der Verabschiedung ein zwei Kilo schweres Buch in die Hand: Der Generalplan von Astana. Auf der ersten Seite befindet sich ein Vorwort von Nursultan Nasarbajew mit eingescannter Unterschrift: "Die Erschaffung einer Hauptstadt ist das Schreiben eines neuen Kapitels in der nationalen Geschichte. Nicht jede Generation hat die Ehre, so einen Text zu schreiben. Wir haben beschlossen, es zu tun." (Wojciech Czaja, 26.12.2017)