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Hugh Welchman (42) produzierte den 2008 mit einem Oscar prämierten Animationsfilm "Peter und der Wolf". Für "Loving Vincent" erhielt er gemeinsam mit Dorota Kobiela (re.) vor wenigen Wochen den Europäischen Filmpreis für Animation.

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ORF

STANDARD: Was brachte Sie auf die Idee, den Film über van Goghs letzte Zeit in seinem Stil, seinem vibrierenden Strich und mit den Motiven seines Werks zu verwirklichen?

Welchman: Von Anfang an war es die Idee von Dorotas Kobiela, meiner Co-Regisseurin, seine Bilder zum Leben zu erwecken, um seine Geschichte zu erzählen, sie über sein Werk zu erschließen. Van Gogh hatte einen großen Einfluss auf Dorota während ihrer Malereiausbildung in Polen, sie las seine Briefe erstmals mit 15, ihre Dissertation behandelte – mit Fokus auf van Gogh – die Verbindung zwischen Geisteskrankheit und Kreativität. Und als sie später in eine Krise geriet, weil sie ihre beiden Leidenschaften – Malerei und Film – gerne kombinieren wollte, las sie seine Briefe neuerlich. Ich selbst finde Filme über Künstler, in denen ihre Gemälde wie Requisiten im Eck stehen, ja sehr enttäuschend. Ganz besonders jedoch bei Vincent, weil sein Werk für seine persönliche Sicht auf die Welt steht.

Vincent van Gogh (1853–1890)
Foto: Luna Filmverleih

STANDARD: Für die Animation fertigten 125 Maler und Malerinnen 65.000 Einzelbilder in Öl. Dennoch wurde mit Schauspielern gedreht. Wie kann man sich die Technik vorstellen?

Welchman: So wie Vincent, wenn er eine Person malte, die ihm Porträt saß, so wollten wir, dass unsere Künstler das Spiel von Schauspielern malen. Also auf die gleiche Weise, wie Vincent sein Farbmanifest und sein Impasto dazu nutzte, die Seele dieser Personen darzustellen. Wir wollten etwas, das so nahe wie möglich an van Goghs Stil heranreicht. Vorstellen kann man sich das so: Man macht ein erstes Gemälde von mir, wo ich in diese Richtung schaue, die Realisierung dauert bis zu drei Tage. Im nächsten Bild schaue ich in eine andere Richtung, also wird der Kopf ausgewischt, vielleicht auch die Schultern, wenn sie sich bewegt haben, die Ölfarbe wird abgeschabt. Malen und auswischen, zwölfmal für eine Sekunde Film. Alle unsere Künstler hassten die Jacke von Armand Roulin, denn ihr Gelb wird sofort schmutzig oder grünlich, wenn es mit anderen Farben vermischt wird.

Mit einem Brief van Goghs, der ein Jahr nach dessen Tod auftaucht, macht sich Armand Roulin (re.) auf den Weg. Eine Spurensuche.
Foto: Luna Filmverleih

STANDARD: Sollten die Schauspieler van Goghs Bildnissen ähnlich sehen?

Welchman: Wir wollten schon Leute, die an das Bild erinnern, aber auch, dass man die Schauspieler kennt. Die schwierigste Person beim Casting war Dr. Gachet. Vincent sagte, dass er in sein Bildnis den untröstlichen Ausdruck jener Zeit legen wollte. Jemanden mit dieser melancholischen Schwere zu finden war schwierig. Wir waren wirklich aufgeregt, als uns Jerome Flynn vorgeschlagen wurde, weil er das tatsächlich hatte.

STANDARD: Gibt es in so einem Projekt überhaupt noch künstlerische Freiräume für die Maler?

Welchman: Ja und nein. Viel Freiraum hatten sie bei der Art, wie sie die Spielszenen in Vincents Malweise übersetzten. Jedoch mussten sie dem Hausstil folgen: 20 Künstler haben allein sechs Monate die Designbilder mit den Farbcodes auf der Seite und die Hauptporträts angefertigt. Die Künstler mussten diesen Vorlagen, dem Stil van Goghs und auch einander folgen, um Konsistenz herzustellen. Dennoch kann man aufgrund der persönlichen Handschrift der Maler Variationen erkennen.

Im Garten seines Hauses treffen Dr. Gachet und Armand Roulin zusammen.
Foto: Luna Filmverleih

STANDARD: Wie findet man so viele so versierte Maler?

Welchman: Dass es in Polen so eine gute Kunstausbildung gibt, wo sich jemand fünf, sechs Jahre voll auf das Handwerk der Ölmalerei spezialisieren kann, war ein wichtiges Argument dafür, den Film überhaupt zu machen. Wir hatten etwa 100 Bewerbungen aus Polen, wählten 65 aus, konnten aber, weil die Finanzierung schleppend lief, zunächst nur 20 beschäftigen. Als die Finanzierung stand, aber die Deadline noch dieselbe war, hatten wir plötzlich enormen Bedarf an Malern, und wir suchten verzweifelt. Aber dann hat ein Fan eines Schauspielers unser Rekrutierungsvideo, eine Art Konzepttrailer, auf Facebook geteilt, und binnen 24 Stunden hatte es zwei Millionen Klicks und in drei Monaten 200 Millionen. Das Video wurde viral. Daraus ergaben sich eine Menge gute Sachen: Wir konnten den Film endlich finanzieren und erhielten 4.000 Bewerbungen aus aller Welt. Am Ende sind es 125 Maler aus 20 Ländern gewesen. Verrückt, dass sie alle gewillt waren, sich ins Flugzeug zu setzen, um zu einer Audition zu kommen.

STANDARD: Hat die Handarbeit den Film im Vergleich zur Computeranimation nicht extrem verteuert?

Welchman: Nicht wirklich. Pixar gibt etwa 300 Millionen Dollar für eine Produktion aus. Aber es war definitiv eine mühevollere Technik. Für Puppentrickfilm, was schon eine sehr langsame Animationstechnik ist, animierten wir im Durchschnitt etwa zwei Sekunden pro Animator pro Tag. In diesem Film war es durchschnittlich eine Drittelsekunde. Aber wir brauchten keine großartigen Visual Effects, denn alles, was man im fertigen Film sieht, ist die Fotografie eines Gemäldes. Die Postproduktion ist sehr unaufwendig.

Dr. Gachet, Vincent van Goghs Arzt und Vertrauter in Auvers-sur-Oise.
Foto: Luna Filmverleih

STANDARD: Wäre es leichter gefallen, für eine Computeranimation Sponsoren zu finden?

Welchman: Finanziers wollen hören, dass man einen Film macht, der genau so ist wie ein anderer, der sein Budget nicht überzogen hat und wahnsinnig erfolgreich war. Wenn man aber sagt, dass man etwas zum allerersten Mal macht, bekommen sie kalte Füße. Ein Universitätsinstitut in Prag rief uns an und sagte: "Ihr habt uns herausgefordert. Wir wollen euch beweisen, dass wir das auch mit dem Computer können." Und ich: "Versucht es doch mal!" Nächstes Jahr wollen sie bereit sein für einen Wettbewerb zwischen einem unserer Malerei-Animatoren und ihrem Computerprogramm. Die handgemachte Qualität und diese Textur, die bekommt man einfach nicht von einem Computer. Öl auf Leinwand sieht einfach besser aus.

STANDARD: Welche Quellen liegen dem Drehbuch zugrunde?

Welchman: Das Wichtigste waren seine Bilder, dann seine Briefe und die Biografien, die in den letzten hundert Jahren über ihn geschrieben wurde. Von Julius Meier-Graefe, der 1921 die erste Biografie über Vincent publizierte, bis zu jener von Steven Naifeh und Gregory White Smith von 2011. Das Van-Gogh-Museum gab uns Lesehausaufgaben. Ich habe insgesamt vermutlich 30 Bücher über van Gogh gelesen. Dorota führte mit den Spezialisten des Museums Hintergrundgespräche über die Art, wie er malte, etwa in welcher Reihenfolge er die Farben auf die Leinwände setzte, ob er die Farben auf der Palette oder direkt auf der Leinwand mischte oder welche Bilder er en plein air, welche er im Studio gemalt hat. Wir sind in vielen Museen gewesen, und wir haben viele Originalschauplätze der Gemälde besucht.

Foto: Luna Filmverleih

STANDARD: "Loving Vincent" fragt, wie es sein konnte, dass van Gogh Selbstmord beging.

Welchman: Als wir recherchieren, was die Leute über Vincent tatsächlich gesagt haben, fanden wir eine verwirrende Menge einander widersprechender Aussagen zu seinem Tod. Wir wollten herausfinden, wer er in seinen letzten Lebenswochen war und was ihm widerfahren ist. Wir waren wie Strafermittler, die herausfinden mussten: Wer lügt, wer sagt die Wahrheit, wer will etwas verbergen? Und wer will in der Sache einfach besser aussehen?

STANDARD: Naifeh und White Smith warfen ja die Selbstmordtheorie in ihrem Buch komplett über den Haufen.

Welchman: Wir haben versucht auszuarbeiten, warum Vincent genau zu dieser Zeit Selbstmord begangen hat. Aber auf vielen Ebenen gingen die Dinge für ihn in Auvers-sur-Oise gerade besser, als sie die meiste Zeit seines Lebens gewesen waren. Er verkaufte sein erstes Bild, hatte seine erste gute Besprechung, Monet erklärte ihn zu einem der aufregendsten neuen Künstler. Körperlich war er sehr viel gesünder, als er es über viele Jahre gewesen war. Er trank nicht mehr so viel, was immer ein Problem gewesen ist. Und er war in der Nähe seines Bruders, den er liebte. Naifehs und White Smiths Buch erschien, während wir am Drehbuch arbeiteten, und belebte alte, zu Beginn des 20. Jahrhunderts kursierende Gerüchte. In einem Interview jener Zeit wiederholte eine Familie wieder und wieder, dass van Gogh sich nicht selbst getötet hat, sondern von Buben erschossen wurde.

Der Sinn von Armand Roulins Reise ist zu erkennen, dass er Vincent verkannt hat.
Foto: Luna Filmverleih

STANDARD: Sie lassen es offen ...

Welchman: Wir haben bei einem Screening eine Umfrage gemacht: Ein Drittel war der Überzeugung, er habe sich selbst getötet, ein Drittel glaubte, es war Mord, das letzte Drittel war unentschieden. Unsere Sicht ähnelt der von Marguerite Gachet, der Tochter von Vincents Arzt: "Du kümmerst dich so sehr um seinen Tod, aber was weißt du über sein Leben?" Der Sinn von Armand Roulins Reise ist zu erkennen, dass er Vincent verkannt hat. Er hatte ihn nur für einen sich zu Tode saufenden verrückten Typen gehalten und die Freundschaft seines Vaters zu Vincent als Peinlichkeit für die gesamte Familie empfunden.

STANDARD: Würden Sie sich noch einmal auf ein solch aufwendiges Projekt einlassen?

Welchman: Ja, die Ästhetik fasziniert mich. Wir haben sogar etwas Geld bekommen, um einen gemalten Horrorfilm zu machen, basierend auf späten Gemälden Goyas. (Anne Katrin Feßler, 27.12.2017)

Marguerite Gachet zu Armand: "Du kümmerst dich so sehr um seinen Tod, aber was weißt du über sein Leben?"
Foto: Luna Filmverleih

Kurzkritik "Loving Vincent"

Gemälde im Temporausch: Der Tod van Goghs als spannungsloser Kriminalfall

Wien – Es gibt viele Arten, einen Film zu betrachten. Beim Animationsfilm Loving Vincent kann man versuchen, alle 77 Van-Gogh-Gemälde oder die Stilnuancen der 125 beteiligten Künstlerhände zu erkennen.

Am wenigsten anstrengend ist es, der spannungslosen Handlung zu folgen: Um den Spuren rund um den mysteriösen Tod Vincents in Auvers-sur-Oise nachzugehen, lassen die Filmemacher Dorota Kobiela und Hugh Welchman den jungen Armand Roulin mit einem Brief des Künstlers auf eine Reise gehen. In der Befragung von Weggefährten wird dessen Tod mehr und mehr zum Kriminalfall.

Letztlich gewinnt Armand aber ein völlig neues Bild des Malers. Allerdings wird auch der Zuseher verwundert sein über den in Rückblenden so ausgeglichen, geradezu in sich gekehrt Dargestellten. Aus van Goghs Briefen sprechen aber wahnhafte Leidenschaft und aufbrausender Charakter.

Das größere Dilemma des Films ist jedoch, dass Gemälde langsamer, bedachtsamer Annäherung bedürfen, um sich zu erschließen oder Vincents Weltsicht zu vermitteln. Bei zwölf Bildern pro Sekunde bleibt es beim aufwendigen Spiel mit populärer Van-Gogh-Ästhetik. (kafe, 27.12.2017)

Schmale Gemälde wie jenes von Frau Gachet am Piano mussten für den Film in neue Formate übersetzt werden. Hugh Welchman: "Als wir Dr. Gachets Haus besucht haben, stellten wir fest, dass es nur eine Perspektive gibt, von der es Vincent gemalt haben konnte. Das war durch das Fenster. Und das war der Grund, warum wir die Fensterrahmung als Rahmen für dieses Gemälde benutzt haben."
Foto: Luna Filmverleih

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