Von oben ist von den Vorgängen unter dem Dotson-Eisschelf nichts zu bemerken.
Foto: N. Gourmelen/University of Edinburgh

Edinburgh – Bei buchstäblich oberflächlicher Betrachtung wirkt das Dotson-Eisschelf wie jedes andere auch. Die weite weiße Ebene vor der Küste des westantarktischen Marie-Byrd-Landes zählt mit einer Breite von 50 Kilometern und eine Fläche von 3.500 Quadratkilometern zu den kleineren Schelfeisgebieten des Südkontinents. So friedlich die Region von oben auch wirkt, unter dem Eispanzer spielen sich seltsame Dinge ab, die – wie nun Wissenschafter herausgefunden haben – dramatische Auswirkungen haben könnten.

Wachsender Eiscanyon

Eine Gruppe von Glaziologen um Noel Gourmelen von der University of Edinburgh hat nämlich anhand von Satellitenbildern Hinweise darauf gefunden, dass sich an der Unterseite der bis zu 500 Meter dicken Eisschicht ein gewaltiger Kanal seinen Weg vorwärts bahnt. Der bereits 60 Kilometer lange und fünf Kilometer breite Canyon höhlt das darüber liegende Eis jedes Jahr um rund sieben Meter Richtung Oberfläche aus und reduziert die Dicke des Schelfeises dabei insgesamt immer weiter. An manchen Stellen sei laut der im Fachjournal "Geophysical Research Letters" erschienen Studie das Eis nur mehr halb so mächtig wie es einmal war.

Satellitenaufnahmen enthüllten eine bedenkliche Entwicklung: Die Computergrafik zeigt die Position des Eiscanyons unter dem Schelfeis.
Illustr.: ESA

Gefährliche Kettenreaktion

Gourmelen und sein Team gehen davon aus, dass warme Meersströmungen für das Phänomen verantwortlich sind. Die Ausdünnung sei nach Ansicht der Wissenschafter insbesondere deshalb problematisch, weil sie das Schelfeis bedeutend schneller reduziere, als es die natürliche klimawandelbedingte Entwicklung ohnehin schon tun würde. Auch wenn das Dotson-Eisschelf für sich allein genommen keine große Fläche repräsentiert, so könnte der Tunnel eine Kettenreaktion auslösen und so letztlich die Gletscher der gesamten Region gefährden, so Gourmelen.

Die Grafik verdeutlicht, dass das Eis entlang des Kanals schneller schmilzt als an anderen Stellen des Dotson-Eisschelfs.
Illustr.: ESA

Schneller Kollaps

Die Forscher glauben, dass sich der Kanal erst während der vergangenen 25 Jahre ausgebildet hat. Sollte sich der Prozess mit der bisherigen Geschwindigkeit fortsetzen und der Kanal bis zur Oberfläche vordringen, könnte sich das Dotson-Eisschelf, das dann gegenüber den Folgen von Meereswellen und Stürmen wesentlich anfälliger wäre, rasch destabilisieren. Unter diesen Umständen würde das Dotson-Schelf nicht erst in knapp zwei Jahrhunderten sondern bereits in 50 Jahren kollabieren, so die Experten. (tberg, 1.1.2018)