In einem von wenigen Ausreißern nach oben gekennzeichneten Jahr bewährte sich Bewährtes. Album des Jahres ist deshalb Thurston Moores Rock n Roll Consciousness. Darauf memoriert der New Yorker seine Lehrjahre beim Lärmsymphoniker Glenn Branca ebenso wie die erhabensten Momente bei seiner früheren Band Sonic Youth. Gegen die eigene Prägung kommt man schwer an, da ergibt man sich leicht und gern.

Persönliche Entdeckung des Jahres war der durchsichtige Brite King Krule. So nennt sich Archy Marshall, der mit The Ooz ein so unambitioniertes wie genialisches Kleinod produziert hat. Ein nachlässiger Diener vor abgefuckter Lounge-Musik, Punk und Anfängerjazz mit dem Mittelfinger geblasen. In Österreich verabschiedete sich Austropop-Urgestein Wilfried Scheutz viel zu früh von dieser Welt. Sein finales Album Gut Lack belegt, wie Renitenz die Sorge um die Alterswürde außer Acht lassen kann, da sie sich über Witz, Geist und Rückgrat wie von selbst einstellt.

Morbide Innenschauen bot der Steirer Paul Plut auf seinem Longplayer Lieder vom Tanzen und Sterben. Mattschwarze Gospel-Gstanzln im Dialekt von einer der besten Stimmen des Landes. Einen Komplettabsturz verzeichneten die kanadisch-amerikanischen Indie-Lieblinge Arcade Fire mit ihrem belanglos dahinplätschernden Everything Now. Sie wollten alles und gaben nichts. Wie Radiolegende Werner Geier einmal so schön gesagt hat: "Da schlaft mir beim Speiben des G'sicht ein."

Das Comeback des Jahres war wohl jenes des LCD Soundsystem. James Murphy lädt auf American Dream zu einem Egotrip ein, der seinen anhaltenden David-Bowie-Verlustschmerz ebenso hörbar macht wie sein Entsetzen angesichts des Donald Trump. Kendrick Lamar hat mit Damn geglänzt, guter Mann. Andererseits kehrten die Hip-Hopper A Tribe Called Quest Anfang des Jahres mit We Got It From Here ... Thank You 4 Your Service ein letztes Mal wieder. Und denen verdankt Lamar alles.

Wiederveröffentlichung des Jahres: Die edle Kompilation Devil Girls With Raven Hair erfreute im Frühling mit einer Erinnerung an den Gothic-Rockabilly des Jody Reynolds, aus dessen Feder schattseitige Klassiker wie Fire Of Love oder Endless Sleep stammen.

Und im Herbst erfreute das deutsche Label Bear Family, als es Bobby Blands 1974 entstandenes Meisterwerk Dreamer wieder auflegte. Emotionale Achterbahnfahrten im edelsten Tuch, das der Deep Soul im Kasten hängen hat. Musik für die Ewigkeit.

Karl Fluch

Foto: Caroline Records

Der aus Venezuela stammende Produzent Alejandro Ghersi alias Arca fertigte 2017 u. a. Tracks für Björks Utopia sowie Stücke für Take Me Apart, das Debüt der US-R'n'B-Sängerin Kelela. Am überzeugendsten klingt die gleißende, verzerrte und verstörende Elektronik, zu der in sakralen Räumen deviante Sexualpraktiken mit Kirchengesang ausgeübt werden, allerdings auf seinem aktuellen Soloalbum Arca.

Nach 13 Jahren meldeten sich die britischen Schwermelancholiker Flotation Toy Warning mit einem würdigen Nachfolger ihres Meisterwerks Bluffer's Guide to the Flight Deck zurück. Es trägt den Titel The Machine that Made Us und sorgte ebenso für Herzerweiterung wie das Konzert der seelenverwandten Briten The Grubby Mitts beim Donaufestival in Krems. Einen tollen Auftritt lieferte auch die Deutsch-Amerikanische Freundschaft in der Wiener Grellen Forelle. Die Werkschau Das ist DAF beweist, dass sich diese spartanische Electronic Body Music auch noch gut 40 Jahre später einer zeitlosen Frische erfreut.

Den Song des Jahres liefert der Wiener Cloud-Rapper Yung Hurn mit Ok Cool. Es geht um Drogen, Sex – und was die Mama dazu sagt. Das hört sich schön blöd an. Der letzte Satz gilt für die heimischen Punkrocker Franz Fuexe und ihr Album Die neue Unordnung. Sie sind vor allem live eine Macht. Ordentlich tuschen lassen es auch die Briten Gnod mit unerbittlichem Dröhnland-Rock auf Just Say No To The Psycho Right-Wing Capitalist Fascist Industrial Death Machine.

Christian Schachinger

Foto: XL Recordings

In den 1960ern war sie mit den Staple Singers an vorderster Front der Bürgerrechtsbewegung. Seitdem hat Gospel- und Soul-Grande-Dame Mavis Staples einen langen Weg zurückgelegt und etwa bei Präsident Obama im Weißen Haus gespielt. Auf ihrem Album If All I Was Was Black bietet sie sich verdunkelnden Zeiten die Stirn mit zehn neuen, eigens von Wilco-Mastermind Jeff Tweedy für sie geschriebenen Songs.

Ein erhellendes Licht auf die lange unterschätzte Gospelphase von Staples' einstigem Gspusi Bob Dylan wirft dessen jüngster Eintrag in die Bootleg Series: Trouble No More 1979-1981. Selten sang der spätere Literaturnobelpreisträger leidenschaftlicher, nie wieder klang er so funky.

Dass Americana-Klänge bei Kanadiern in guten Händen sind, weiß man seit The Band. Auf Northern Passages beweisen die in Toronto beheimateten The Sadies um die wahnwitzigen Gitarren-Brüder Dallas und Travis Good, dass sich daran nichts geändert hat.

Gitarren-Nerds durften sich das ganze Jahr über formidable Veröffentlichungen freuen, vom feinen Livealbum Small Town, das Bill Frisell mit Bassist Thomas Morgan eingespielt hat, bis zu Live At Rockwood Music Hall NYC von Jim Campilongo, das endlich dessen Dauergastspiel an der Lower East Side dokumentiert. Campilongo erinnert nicht nur musikalisch zuweilen an Telecaster-Legende Roy Buchanan, er käme auch als würdiger Erbe von dessen Titel "The World's Greatest Unknown Guitarist" infrage.

Die Wiederbegegnung mit einem stillen Giganten der Jazzgitarre ermöglicht die in einer abgespeckten Version neu aufgelegte Drei-CD-Box Live! Vol. 2-4 mit Höhepunkten eines Gastspiels, das Jim Hall 1975 im Bourbon Street Jazz Club in Toronto gab.

An der heimischen Gitarrenfront beweist Sir Karl Ratzer mit Tears erneut, dass er von Jahr zu Jahr besser wird – nicht nur als Saitenkönner, sondern auch als herzergreifender Sänger. Wer (nicht nur) zum Jahresausklang noch in betörendem Wiener Moll baden möchte, greife getrost zu Vienna Rest In Peace der moribunden gleichnamigen Supergroup mit Sängerin Marilies Jagsch, Gregor Tischerberger oder Ralph Wakolbinger – am besten natürlich auf Vinyl.

Karl Gedlicka

Foto: Anti Records

Ein Symptom der CD-Endzeit? Die Berliner Philharmoniker und ihr Chefdirigent Sir Simon Rattle widmen sich mit edler Fünf-CD-Box dem symphonischen Werk des Finnen Jean Sibelius. Wie etwa der Beginn der sechsten Symphonie zart impressionistisch aufleuchtet, hat wahre Magie. Das Ganze erscheint allerdings im Eigenverlag der Berliner – kein Majorlabel traut sich wohl mehr integrale Werkaufnahmen zu.

Ein neuer Dirigent wie Teodor Currentzis kann immerhin seine Ideen dokumentieren: Er setzt etwa mit MusicAeterna Mozart-Opern bei Sony um. Mozarts Requiem bringt er nun subjektiv und klangfiligran auf den historisch informierten Punkt (Alpha).

Grundsätzlich haben es Klaviersolisten leichter als Orchester, wenn es um die Globalverbreitung ihrer Aufnahmen geht. Der Russe Arcadi Volodos ist dabei zu Recht ein Privilegierter. Er überzeugt mit späten Werken von Brahms (Sony). Virtuosität und Poesie verschmelzen etwa bei den Drei Intermezzi, op. 117, delikat. Selbiges darf auch über die georgische Pianistin Khatia Buniatishvili gesagt werden. Packend ihre Klarheit bei Rachmaninows zweitem und drittem Konzert (Sony).

Auch beim Jazz ist die Phase der Veröffentlichungswut längst vorbei. Immerhin gibt es kleine Labels wie Act, die erheblichen Fleiß an den Tag legen. Nicht alles, was erscheint, glänzt zwar. Wenn jedoch Könner wie Pianist Michael Wollny und Vokalist Andreas Schaerer zusammenkommen, passiert Interessantes – wie auf Out Of Land. Labelkollege und Pianist Bugge Wesseltoft wiederum ist am besten, wenn er die Einsamkeit sucht. Auf Everybody Loves Angels vertieft er sich intelligent grüblerisch in Popklassiker: ganz objektiv die CD des Jahres.

Sie würde – von der Atmosphäre her – auch zu ECM Records passen, wo Altmeister und Trompeter Tomasz Stanko mit seinem New York Quartet die December Avenue poetisch durchstreift. Die Zeit scheint klangvoll stillzustehen, und doch brodelt es unter der beschaulichen Oberfläche, die – etwas anders – auch Sänger Max Raabe nicht fremd ist. Auf Der perfekte Moment wird heut verpennt (Universal) zeigt der Advokat des Nostalgischen, bisweilen orchestral umrankt, auch kompositorisches Talent. Seine Vorbilder, die Comedian Harmonists, wären stolz auf ihn.

Ljubiša Tošić

Foto: Berliner Philharmoniker Recordings

Die Retromanie der Plattenindustrie besitzt auch ihre famosen Seiten. Wie sonst könnten wir einen Überblick über das Werk des großen Nick Lowe aus Brentford (London) gewinnen? Die Firma Yep Roc schüttete heuer sechs Lowe-Alben aus den 1980er-Jahren auf den Markt. Jedes einzelne lässt den Fuß wippen und ist die Axt für das gefrorene Meer in uns. Platten wie Nick The Knife demonstrieren eindrucksvoll, warum Lowe nicht nur Pub-Rock und Punk (mit)erfand, Country im kleinen Finger hatte und die Jukebox mit Lagerbier-Reggae bestückte. Lowe lehrte z. B. Elvis Costello, wie cool es sein kann, uncool auszusehen und als Querulant trotzdem die "heißesten Bräute abzubekommen" (ja, so sagte man damals in den atomar ungemein bedrohlichen 80ern). Auf The Rose of England croont Lowe übrigens Costellos nachdenkliches Indoor Fireworks.

Ein menschlich berührendes Wiederhören setzte es heuer auch mit dem genialischen Fundamentaldilettanten Wreckless Eric, einer verquer duftenden Blume vom Misthaufen der D.I.Y.-Kultur. Die beiden ersten Platten von Eric Goulden – so der bürgerliche Name dieses "Donovan of Trash" – stehen windschief in der schwarz-weißen Industrielandschaft der Spätsiebziger. Songs wie Whole Wide World wären natürlich die Number-one-Hits einer schon damals besseren Welt gewesen: unsterbliche Zeugnisse der Selbstermächtigung (vulgo Punk). Womöglich Platte des Jahres (und neu) ist Peter Hammills Songzyklus From the Trees. Die sonst so verquälte Stimme des Van-der-Graaf-Generator-Sängers gleitet leicht und nachdenklich durch Landschaften, in denen die Melancholie des Abschiednehmens obwaltet.

Eine makellose Jazzplatte hat Klarinettist Louis Sclavis im Verein mit Violinist Dominique Pifarély und Cellist Vincent Courtois aufgenommen. Das Album Asian Field Variations (ECM) enthält mit der Nummer Digression eine herzzerreißende Hommage an die atonale Kammermusik Jimmy Giuffres.

Ronald Pohl

(29.12.2017)

Foto: Yep Roc Records