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Recep Tayyip Erdoğan, Präsident.

Foto: AP/Ozer

Am Ende gibt es immer das Foto mit dem Chef. Tayyip Erdoğan sitzt an der Stirnseite des polierten Konferenztischs, oft leger mit einer Strickweste statt Sakko angetan, seine Journalisten um sich geschart. Nur das Blumengesteck in der Mitte des Tischs in der Präsidentenmaschine ändert sich. Dieses Mal war es eine Komposition aus Dahlien, weiß, rosa und rot. "Wir müssen die Zahl der Feinde verringern und die Zahl der Freunde erhöhen", sagte Erdoğan beim Flug nach Tunesien, wie eine mitreisende Journalistin des türkischen Massenblatts "Hürriyet" diese Woche rapportierte.

Zu den Feinden der Türkei zählte Erdoğan bisher auch die deutschen Parteien SPD, CDU und Grüne gemäß seiner Wahlempfehlung bei der Bundestagswahl im vergangenen September sowie die Niederländer mit ihrem "verdorbenen Charakter". Das ist jetzt anders. "Meine Kontakte mit Steinmeier und Merkel sind immer sehr gut gewesen", erklärte der türkische Staatschef seinen Journalisten. "Wir haben keine Probleme mit Deutschland, den Niederlanden oder Belgien. Im Gegenteil. Jene, die in den Regierungen dieser Länder sind, sind meine alten Freunde."

Kurz fehlt

Sigmar Gabriel und Sebastian Kurz, der deutsche Außenminister und dessen ehemaliger Kollege aus Österreich, der mittlerweile ja Kanzler ist, fehlten in Erdoğans neuer Liste der alten Freunde. Beide hatte der türkische Staatspräsident in der Vergangenheit in öffentlichen Reden als anmaßend und unverschämt abgekanzelt. Beide Politiker steckten dieser Tage aber auch den Horizont für das künftige Verhältnis der EU zur Türkei ab. Kurz schrieb in den Koalitionsvertrag mit der rechtsgerichteten FPÖ den Satz vom "endgültigen Abbruch der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei" hinein, und er schrieb vom "europäisch-türkischen Nachbarschaftskonzept" als neuer Lösung. Der Sozialdemokrat Gabriel gab über die Weihnachtstage die Losung von einem "klugen Abkommen" der EU mit dem Austrittsland Großbritannien aus, das als Modell auch für die Beziehungen mit der Türkei dienen könnte.

Die Türkei-Passage im Koalitionsabkommen hat das Außenministerium in Ankara sofort entrüstet zurückgewiesen. Eine offizielle Reaktion aus Ankara auf Gabriels "kluges Abkommen" gab es noch nicht, wohl aber eine Erwähnung in einem Kommentar der islamistischen Tageszeitung "Yeni Şafak", ein Sprachrohr der türkischen Regierung. Der Schreiber ordnete den Vorschlag des deutschen Außenministers als den jüngsten Versuch der Erdoğan-Widersacher ein, positive Entwicklungen wie das Wirtschaftswachstum der Türkei oder die Entspannung mit Deutschland kleinzureden. "Seid bloß nicht erstaunt" lautete der Titel des am Donnerstag erschienenen Kommentars als Rat an die türkischen Bürger.

Wiedersprüchliche Haltung

Diese erste Abfuhr aus regierungsnahen türkischen Kreisen geht wohl am Kern von Gabriels Vorschlag vorbei, spiegelt aber die zweideutige Haltung des Präsidentenpalasts in Ankara wider: Erdoğan proklamiert einerseits weiterhin die Vollmitgliedschaft in der EU als "strategisches Ziel" der Türkei; andererseits droht der türkische Staatspräsident aber mit einem Volksentscheid über die Fortsetzung der Verhandlungen, weil die Geduld der Türken mit den Europäern 54 Jahre nach dem Abschluss des Assoziierungsabkommens erschöpft sei. Gabriel jedoch greift nur auf, was ein renommierter türkischer Politikwissenschafter seit Monaten als realistischen Neustart der Beziehungen zwischen Europa und der Türkei zur Diskussion stellt.

Jemand in Sigmar Gabriels Team habe vielleicht ein Papier von Sinan Ülgen gelesen, twitterte Marc Pierini, der ehemalige Leiter der EU-Delegation in Ankara, diese Woche. Pierini und Ülgen sind derzeit beide Visiting Scholars in Brüssel bei der Europa-Filiale der amerikanischen Denkfabrik Carnegie. Ülgen hatte im vergangenen März zunächst in einer Studie eine konzertierte Zusammenarbeit zwischen Großbritannien und der Türkei vor dem Hintergrund der Brexit-Verhandlungen empfohlen.

Nicht-Mitglied und Nie-Mitglied

Britische und türkische Entscheidungsträger stünden vor einer sehr ähnlichen Herausforderung, schrieb Ülgen: "Beide müssen ein Verhältnis zu Europa unter veränderten Annahmen über ihren zukünftigen Status aufbauen. Das Vereinigte Königreich ist dabei, ein Nichtmitglied der EU zu werden, während die Türkei begreift, dass sie vielleicht nie ein EU-Mitglied werden wird."

Ülgen, der selbst ein eigenes Forschungsinstitut in Istanbul leitet, das Zentrum für wirtschafts- und außenpolitische Studien (EDAM), sieht zwei gemeinsame Felder, die Großbritannien und die Türkei mit der EU neu aushandeln müssen: Zollunion und Sicherheitspolitik. Mitte Dezember legte Ülgen nach und präsentierte eine Studie, die sich allein auf die Vertiefung der Zollunion zwischen der Türkei und der EU konzentriert. "Handel als Anker der Türkei in der EU" heißt der Titel. Die Idee: Durch eine Ausweitung und Vertiefung der Zollunion würde sich die Türkei wieder zurück zur Demokratie bewegen. Wandel durch Handel also. Eine "neue, engere Form der Zollunion" ist auch das, was Sigmar Gabriel wenig später in einem Interview vorschlug.

Freilassungen

Verhandlungen über die Modernisierung der Zollunion, auf die Ankara schon seit Jahren drängt, könne es aber angesichts der derzeitigen Lage im Land nicht geben, schränkte Gabriel ein. Die Freilassung von mittlerweile drei deutschen Staatsbürgern aus türkischer U-Haft hält er für ein positives, aber nicht ausreichendes Zeichen. Damit liegt der Außenminister auf Linie mit der deutschen Kanzlerin. Angela Merkel hatte im Wahlkampf ausgeschlossen, dass Berlin unter den gegenwärtigen Verhältnissen einem Mandat zu Verhandlungen der EU mit der Türkei über die Zollunion zustimmt.

Denkbar ist nun gleichwohl: Die türkische Regierung lässt nach und nach auch die anderen als politische Häftlinge geltenden Deutschen in der Türkei frei, insbesondere den "Welt"-Korrespondenten Deniz Yücel, und erhält im Gegenzug den Beginn substanzieller Verhandlungen über eine engere Zollunion. Für die Zeit nach den Präsidenten- und Parlamentswahlen in der Türkei, die regulär im November 2019 stattfinden, möglicherweise aber auch früher, könnte ein Staatschef Erdoğan dann tatsächlich ein EU-Referendum ansetzen. Die Frage, über die in der Türkei abgestimmt würde, wäre schlicht: für oder gegen die Annahme einer neuen Zoll- und Handelsunion mit Europa? Das Thema Beitrittsverhandlungen wäre nicht länger im Vordergrund, die Türkei hätte einen Status wie Großbritannien nach dem Brexit, und die türkische Regierung hätte ihr Gesicht gewahrt. (Markus Bernath, 29.12.2017)