Wer hoch ins Farbige will, der muss erst unter die Erde. Der Kunstbau der Städtischen Galerie im Lenbachhaus in München, in dem die große Werkschau der Malerin Gabriele Münter (1877–1962) gezeigt wird, liegt unterirdisch. Hier vibrieren aktuell die Wände vor Farbe: rot, gelb, grün, violett. Mal flächig. Mal hart nebeneinandergesetzt. Mal abstrakt – immerhin war Münter Gefährtin Wassily Kandinskys und bekannt mit allen Malern des Blauen Reiters, der Münchner Avantgardegruppe vor 1914. Auch mal postimpressionistisch. Oder neusachlich.

Gabriele Münter: "Kahnfahrt" von 1910 aus dem Milwaukee Art Museum
Foto: © VG Bild-Kunst, Bonn 2017

Malen ohne Umschweife lautet der Titel der mit 200 Exponaten – darunter 132 Gemälde – üppig bestückten Schau, deren Gros aus dem Bestand der Gabriele-Münter-und-Johannes-Eichner-Stiftung stammt, seit 1966 Herzstück der Sammlung des Lenbachhauses. Und dessen eigentlicher Besuchermagnet. Worauf mit dieser Schau sichtlich erfolgreich spekuliert wird.

Der neunteilige Parcours ist thematisch aufgebaut. Schlagworte überspannen teilweise Arbeiten aus mehreren Jahrzehnten. Das verwischt, dass es zwei kreative Hauptphasen bei Münter gab: 1907 bis 1920, als sie mit Wassily Kandinsky zusammen war und die explosive Vehemenz des Blauen Reiters rund um diesen sowie um Alexej von Jawlensky und Marianne von Werefkin erlebte und mitmalte. Und die Jahre 1929/30 in Paris.

Reise zu Verwandten

Begonnen wird der Bildergang auf von Tiefviolett bis zu Hellgrau reichenden Hintergründen mit Fotografien, dem "Werk vor der Malerei". 1898 bis 1900, auf einer Reise zu Verwandten im Mittleren Westen der USA, fiel der 1,52 Meter kleinen Zahnarzttochter, durch den Tod der Mutter 1897 finanziell sehr gut gestellt, eine Kodak Bull's Eye No. 2 in die Hände.

Leihgabe der Neuen Galerie New York: "Im Garten in Murnau" von 1911
Foto: © VG Bild-Kunst, Bonn 2017

So werkerkenntnisumwälzend, wie es die Kuratoren Isabelle Jansen und Matthias Mühling –Letzterer auch Direktor des Hauses – behaupten, sind allerdings diese Fotografien nicht. Eine Auswahl war schon vor zwanzig Jahren bei einer Münter-Schau, die durch Nordamerika tourte, zu sehen. Hilfreicher wären bei den Stadtszenen, Landschaftsaufnahmen und Blicken vom Mississippi-Dampfer Verweise auf Münters Inspirationen – von Max Liebermann bis zur Dresdner Romantik.

Vielfältige Landschaften

Am eindringlichsten sind die Kabinette mit den sensiblen Porträts und den vielfältigen Landschaften. Aber schon bei "Natur und Technik", Ölbildern aus den 1930ern von Straßenarbeiten bei Partenkirchen in Oberbayern – Münter selbst lebte da schon seit vielen Jahren im nahen Murnau –, fällt auf, wie eher unbeholfen diese Gemälde anmuten. Auch in "Wiederholungen und Variationen" sticht der Mangel an Konsequenz ins Auge.

Gabriele Münter: "Der blaue Bagger (Baustelle an der Olympiastraße nach Garmisch)", 1935–37
Foto: © VG Bild-Kunst, Bonn 2017

Dass Münters neusachlichen Arbeiten der 1920er fast unbekannt sind, leuchtet sofort ein. Ist dies doch behagliche Malerei, nicht frei von Ambition, doch bieder ausgeführt, kreuzbrav. Merkwürdig kommentarlos gehängt sind die an spätexpressionistisch-naive Glasmalerei erinnernden Arbeiten aus der Zeit nach 1933. Eine mit Hakenkreuzfahnen geschmückte Straße – nur ein ästhetisches Ereignis? Andererseits verbarg Münter die verfemten Bilder ihrer Sammlung in ihrem Haus und rettete sie so.

Mitleidlos aufgezeigt

Die drei letzten Abteilungen, "Der Umgang mit Abstraktion", "Interieurs" und "Primitivismus", zeigen ziemlich mitleid- wie erbarmungslos alle Schwächen auf. Da setzte Münter sich um 1914 mit Kinderzeichnungen auseinander – und kam zu mediokren Ergebnissen. Da griff sie lange das Motiv von Masken auf – und schuf wenig Überzeugendes. Und natürlich machte sie auch zeitgeistige Skizzen von tanzenden Südseebewohnern. Vollkommen unverständlich bleibt, wieso hier ihre abstrakten Gemälde der 1950er, ein Mix aus Mirò, Picasso und Jean Arp, dermaßen gepriesen werden. Erhellender wäre die Erwähnung, dass damals der Markt für figurative Kunst kollabiert war.

Ebenfalls vom Milwaukee Art Museum geliehen: Münters "Haus in Schwabing" (1911)
Foto: © VG Bild-Kunst, Bonn 2017

Dass Künstler nicht nur Galerien und Museen aufsuchten, sondern auch in den Zirkus und ins Varieté gingen, ist hinlänglich bekannt. Doch dass sie auch begeistert Filme schauten – Münter verehrte, wie Filmausschnitte zeigen, Zarah Leander –, scheint für Kunsthistoriker erstaunlich staunenswert zu sein. Diese Retrospektive, zu groß und viel zu breit, ist ein schwärmerischer mittelgroßer Bärendienst. Stärker bleiben im Gedächtnis die schwächeren und schwachen Arbeiten, die formalen und kreativen Defizite und nicht so sehr Sensibilität und farbliche Finesse. (Alexander Kluy aus München, 29.12.2017)

Gabriele Münters "Sinnende II", gemalt 1928.
Foto: VG Bild-Kunst, Bonn 2017