Schneekristalle sind faszinierende Objekte, die ihre ganze Schönheit erst unter dem Mikroskop preisgeben. Fällt der erste Schnee im Jahr, blicken nicht wenige Menschen hoch zum Himmel, um die weiße Pracht zu bestaunen, die aus den Wolken fällt.

Auch Wilson Bentley aus dem US-Bundesstaat Vermont hatten es die fragilen Gebilde angetan. Schon als Kind war er fasziniert von den winzigen Kristallen, die er an kalten Wintertagen ausführlich mit dem elterlichen Mikroskop bestaunte. Aber allzu schnell schmolz der Schnee und von den bezaubernden Kristallen blieb nur ein Tropfen Wasser übrig. Da fasste er den Entschluss, diesen fantastischen Anblick, den er unter dem Mikroskop sah, diese flüchtigen Augenblicke, in denen diese Wunderwerke der Natur existieren, festzuhalten. Und so wurde Wilson Alwyn Bentley zu einem der Pioniere der Schneekristall-Fotografie.

Wilson Bentley und seine Kamera.
Foto: Metropolitan Museum of Modern Art

Mister Bentleys Gespür für den Schnee

Wilson Bentley wurde 1865 als Sohn eines Farmers geboren. Eine Zeit, in der die Schwarzweiß-Fotografie schon erste Blütezeiten erlebte, aber die Fotografie von mikroskopisch kleinen Objekten erst in den Kinderschuhen steckte.

Schon als Jugendlicher hatte sich Wilson für die kleinsten Dinge seiner Umgebung und die Beschaffenheit von Schnee interessiert. Als er schließlich von seiner Mutter ein Mikroskop geschenkt bekam, weckte das sein Interesse an einer möglichen Kombination von Fotografie und Mikroskopie. Nach Jahren erfolgloser Versuche las Wilson in einer Zeitschrift, dass eine Kamera mit ausziehbarem Balgen für seine Zwecke geeignet sein könnte. Er würde sie mit dem Mikroskop verbinden können. Zähneknirschend willigten seine Eltern ein und schafften die Kamera an. 

Zu Jahresbeginn 1885 löste er alle technischen Probleme und schloss das Mikroskop an seine Kamera an. Wenig später, am 15. Jänner, gelang ihm tatsächlich die erste Aufnahme einer Schneeflocke.

Die zauberhafte Schönheit eines Schneekristalls.
Foto: Schwerdtfeger Library/Public Domain
Wilson Bentley: "No two snowflakes are alike".
Foto: Schwerdtfeger Library/Public Domain

Wilson Bentley gilt in den Geschichtsbüchern zwar als erste Person weltweit, die erfolgreich einen Schneekristall fotografiert hatte. Manche Forscher schreiben diese Pioniertat aber mittlerweile dem deutschen Naturwissenschafter Johann Heinrich Flögel zu, der das erste Flocken-Foto im Jahr 1879 gemacht haben soll. Aber nie zuvor hatte jemand so ausdauernd und ausführlich die Vielfalt und Schönheit dieser "miracles of beauty", wie Bentley sie nannte, in Bildern dokumentiert. Bis zu seinem Tod im Jahr 1931 verewigte er mehr als 5000 Stück. 

Verblüffend, wie detailreich Bentley die Schneekristalle abgebildet hat.
Foto: Schwerdtfeger Library/Public Domain
Es geht auch ganz ohne Schnickschnack.
Foto: Schwerdtfeger Library/Public Domain
Eine Blume aus Eis.
Foto: Schwerdtfeger Library/Public Domain

Wie man einen Schnekristall fotografiert

Wie ging Bentley beim Fotografieren der Kristalle vor? Schließlich mussten die zerbrechlichen Gebilde, die er für ein Foto auswählte, gut sichtbar sein – ein möglichst dunkler Hintergrund war daher notwendig. Außerdem musste der Schneekristall ganz rasch zur Kamera transportiert werden. Als optimale Lösung stellte sich der Transport auf einem mit schwarzem Samt überzogenen Tablett heraus. 

Wenn die Schneestürme in seiner Heimatstadt Jericho, Vermont, tobten, stand Bentley geduldig vorm Haus und beobachtete die schwarze Fläche des Tabletts mit einer Lupe, wischte Flocken weg, die ihm wenig brauchbar erschienen, und wartete darauf, bis ein perfekt symmetrischer Kristall auf dem Samt lag. Mit einem winzigen Holzspan hob er den Schneekristall auf einen Objektträger und lief in seinen Schuppen, in dem er seine Mikroskop-Kamera aufgebaut hatte. Er legte den Objektträger unter das Mikroskop und stellte das Bild mit einem System aus Schnüren scharf, das er für den Gebrauch mit seinen Handschuhen entwickelt hatte. Eine weitere Herausforderung war, dass jeder unbedachte Atemzug den Kristall zum Schmelzen bringen konnte. 

Nach all diesen Vorbereitungen, die in höchstem Tempo vor sich gehen mussten, konnte er die Glasplatte belichten. Die Belichtungszeit variierte dabei zwischen acht und hundert Sekunden. Der Schneekristall war verewigt.

Ein Ornament, das man schöner nicht erfinden könnte.
Foto: Schwerdtfeger Library/Public Domain
Mein Kristall, der hat sechs Ecken.
Foto: Schwerdtfeger Library/Public Domain
Perfektere Symmetrie ist kaum möglich.
Foto: Schwerdtfeger Library/Public Domain

Der lange Weg zur Anerkennung

Lange Jahre wurden die Ergebnisse Bentleys nicht ernst genommen. Er war schließlich kein anerkannter Wissenschafter, sondern ein einfacher Farmer, der sich all seine Erkenntnisse und das technische Wissen autodidaktisch angeeignet hatte. Von vielen, auch von den meisten Bewohnern Jerichos, wurde er als Spinner bezeichnet, als der "Schneeflockenmann", der seine Zeit mit nutzlosen Dingen verbrachte.
Zu öffentlichen Vorträgen, die er in Jericho abhielt, erschien nur eine Handvoll Interessierter.

Doch Wilson Bentley ließ sich nicht entmutigen. Er wollte vor allem die Schönheit dieser winzigen Kristalle publik machen, mit möglichst vielen Menschen seine Faszination teilen, und schickte Artikel an eine Unzahl amerikanischer Zeitungen und Zeitschriften. Die Hartnäckigkeit machte sich bezahlt, denn schließlich fand er Gehör. Durch erste Veröffentlichungen wurden auch die bekannten Magazine auf Bentley aufmerksam, Beiträge in "Popular Mechanics", "National Geographic" und dem "New York Times Magazine" folgten. Insgesamt mehr als 100 Artikel über den Farmer aus Vermont, der nichts so sehr liebte wie Schneekristalle, erschienen. Und er krönte sein Lebenswerk mit einem Buch, das 2453 seiner Fotos enthielt: "Snow Crystals", das in seinem letzten Lebensjahr 1931 erschien.

Wie man sich einen perfekten Schneekristall vorstellt...
Foto: Schwerdtfeger Library/Public Domain
Je mehr Schneekristalle man betrachtet, desto nachvollziehbarer wird Bentleys Faszination.
Foto: Schwerdtfeger Library/Public Domain
Seite aus Bentleys Publikation "Studies among the snow crystals during the winter of 1901-02".
Foto: Public Domain

Wilson Bentley, der die meiste Zeit seines Lebens in einem eiskalten Schuppen auf seiner Farm im Norden Vermonts verbrachte, war nie verheiratet. Fast scheint es, als hätte er sein ganzes Leben ausschließlich seinen geliebten Schneeflocken gewidmet.

Im Dezember 1931 lief er wie so oft durch einen Wintersturm, wie immer auf der Suche nach perfekten Schneekristallen. Doch diesmal wurde er krank. Eine Erkältung verschlimmerte sich rasch zu einer Lungenentzündung, an der er am 23. Dezember starb. Als er im Friedhof von Jericho seine letzte Ruhestätte fand, begann es angeblich sanft zu schneien. (Kurt Tutschek, 8.1.2018)