Maggie Nelson lebt mit ihrer Familie in Los Angeles. Das Foto hat ihr Partner Harry gemacht.

Foto: Harry Dodge

Maggie Nelson, "Die Argonauten". Aus dem Englischen von Jan Wilm. € 20,60 / 192 Seiten. Hanser Berlin, Berlin 2017

Foto: Hanser Berlin

"Feucht" und "entzückend" gleichermaßen findet Maggie die Junggesellenwohnung von Harry. Es mag beides zutreffen. Oder sie hat im Moment einfach ihre Sinne nicht ganz beisammen. Denn das Gesicht auf den Zementfußboden besagter Wohnung gedrückt "fickt" Harry sie gerade "das erste Mal in den Arsch". Ein "Haufen Dildos in einer schattigen, unbenutzten Duschkabine" darf zum beglückenden Gelingen der Begegnung beitragen. "Geht es noch besser?"

Maggie heißt mit vollem Namen Maggie Nelson und ist Literatin und Essayistin. Mit Die Argonauten ist der 44-Jährigen in den USA 2015 ein großer Erfolg gelungen. Es wurde mit dem National Book Critics Circle Award und dem MacArthur Fellowship prämiert. Das "Genie-Preis" genannte, eine halbe Million Euro schwere Stipendium wird an Forscher, Künstler, Aktivisten und andere vergeben, die künftig kreative und wichtige Beiträge zu gesellschaftlich heißen Themen erwarten lassen. Die New York Times hob den Band in ihre Liste der bemerkenswertesten Bücher des Jahres.

Vor Brüchen und (scheinbar) Widersprüchlichem scheut Nelson sich nicht. "Ich liebe dich", rutscht es ihr bei eingangs beschriebener Szene heraus. Heute sind Maggie und Harry verheiratet und Patchworkeltern zweier Kinder. Eine Frage, der sie sich stellt, lautet: Ist eine schwangere Lesbe mit ihrem zwischengeschlechtlichen Lebenspartner weihnachtlich herausgeputzt als Foto auf eine Kaffeetasse gedruckt heteronormativ? Konservativ? Bieder?

Für das Ausgesprochene

Die Dildos in der Duschkabine sind keine Penetrationsoptionen, sondern notwendige Behelfe. Wer Begriffe wie queer, Boi, Cisgender, Andro-Fag oder Butch nicht kennt, lernt sie in Die Argonauten kennen. "Worte sind gut genug", bricht Nelson eine Lanze wider das vermeintlich Unaussprechliche und für das Ausgesprochene. Jenes stellt sie aber, seit sie Harry kennt, vor besondere pragmatische Probleme. Harry wird gerade von der Frau zum Mann, das macht Maggie die Verwendung vieler Pronomen unmöglich. "Man muss lernen, sich in grammatikalischen Sackgassen zu verstecken", gewöhnt sie den Partner / die Partnerin an die inflationäre Verwendung seines/ihres Vornamens und des "Du".

Der Buchtitel rührt von Roland Barthes' Überlegungen zur Argonautensage her. Die Argo, das Schiff Jasons, wird während der Fahrt auf See ständig umgebaut, Bretter werden ausgetauscht, erneuert. Letztlich ist kein Teil mehr original, aber das Schiff trägt immer noch denselben Namen.

So sieht sie sich und Harry auf ihrer Lebensreise. Nelson erzählt eine Lebens- und Liebesgeschichte. Aber nicht als Roman, sondern in knappen Absätzen und bunt durchmischt aufeinanderfolgend als Anekdoten und intimste Erlebnisse, Reflexionen über sich selbst und Kunstwerke, kritische Auseinandersetzung mit Texten von Jacques Lacan, Judith Butler oder D. W. Winnicott. So entspinnt sich ein monologischer Diskurs aus Theorie und Privatem. Eins erklärt, stützt, befragt das andere.

Ströme von Wörtern und Milch

"Mehr als eine Philosophin bin ich vielleicht eine Empirikerin", beschreibt Nelson das eigene Agieren gut. Ihr Schreiben findet sie mehr "klärend" als kreierend. Dass sie "nicht gleichzeitig mein Baby halten und schreiben" kann, wird nicht zum großen Hindernis. Entstanden sei das Buch angeschlossen an eine Milchpumpe. Jenes Bild verzeiht man ihr: "Wörter strömten in die eine Maschine, Milch strömte in die andere."

Denn 2011 – Harry seinerseits gewöhnt sich gerade an tägliche Testosterongaben – wurde Nelson schwanger. "Ich war immer davon ausgegangen, dass die Erfahrung der Geburt eines Kindes mir ein Gefühl von Unbesiegbarkeit und Stattlichkeit geben würde – wie das Fisten." Anders als das Einführen der Faust in untere Körperöffnungen machte die Schwangerschaft sie aber schlapp und erschöpft. Sie beschreibt Auswirkungen auf Selbstgefühl, Sexualität und Kot.

Nelson, in San Francisco geboren, unterrichtet an verschiedenen US-Unis und hat bis dato vier fiktionale und fünf Sachbücher zu Kunst, Feminismus, sexueller Gewalt, Ästhetik geschrieben. Sie ist eine Denkerin, Grüblerin, die an den Spuren, die sie verfolgt, teilhaben lässt: Geschlechter- und Lebensnormen, Patchworkfamilienleben, Profitwahn und Glücklichsein. Genresprengend wird sie gern genannt.

"Queer" vs. "Mainstream-LGBTQ"

"Ich will gar nichts repräsentieren", entgegnet sie US-Feministin Kaja Silvermans Forderung nach "ermächtigenden Repräsentationen von weiblicher Endlichkeit", um Mütter zu "unterstützen", statt sie zu verunsichern. "Gleichzeitig könnte man jedes meiner Wörter als eine Verteidigung lesen, als Behauptung von Wert – dem Wert meiner selbst, was auch immer ich bin." In ihren lesbischen Beziehungen merkt sie das "geteilte, erdrückende Verständnis davon, in einem Patriarchat zu leben".

Wobei: Wie einfach ist die Sache mit dem Feindbild Patriarchat heutzutage noch? Immerhin unterscheidet Nelson zwischen "Queers" und der "Mainstream-LGBTQ-Bewegung, die alles dafür getan hat, sich in zwei historisch repressive Strukturen hineinzubetteln: die Ehe und das Militär".

Deftig und zärtlich ist der Eindruck dessen, das zu denken und zu sagen Nelson gewillt ist. Gut, dass sie nun erstmals deutschsprachigen Lesern vorgestellt wird. (Michael Wurmitzer, 31.12.2017)