In seinem Spätwerk setzte Giorgio de Chirico noch einmal zur Versöhnung des Menschen mit dem traurigen Los seiner beunruhigenden Einsamkeit an: im Bild "Héctor y Andrómaca", 1970.

Giorgio de Chirico, VEGAP, Barcelona, 2017

Die visionären Bilderwelten Giorgio de Chiricos (1888-1978) sind farblich von immenser Strahlkraft. Der, der sich selbst "pictor summum", der "höchste Maler", nannte, setzt auf rigoros-geometrische Ordnung, klare Linien und Formen. Seine Pittura metafisica gilt als Italiens früher Vorreiter des Surrealismus.

Eine seltene Chance, in de Chiricos Welt einzutauchen, bietet aktuell das Caixaforum Madrid. 143 Werke versammelt die Retrospektive, ein chronologisch konzipierter Rundgang durch alle Schaffensperioden. Gezeigt werden überwiegend Gemälde, die Skulpturen als Motive dienten, wie Beunruhigende Musen (Gemälde 1917, Plastik 1974), Reuiger Minotaurus oder Der große Troubadour.

Kuratiert von Mariastella Margozzi und Katherine Robinson, zeigt die Schau "die zwei Wege, die de Chirico zeitlebens eingeschlagen hat", so Robinson. "Zum einen das Überraschende, das Metaphysische, seine italienischen Piazze. Eine Welt abseits des Alltäglichen und des Realen." Zentral sind de Chiricos "manichini", anonyme Gliederpuppen. "Zum anderen seine Rückbesinnung auf Neobarock und Neoklassizismus." Und sein neometaphysisches Spätwerk der 1960er- und 1970er-Jahre wie die Mysteriösen Bäder (Bagni misteriosi). Ein Motiv, das in den Illustrationen zu Jean Cocteaus Mythologie (1934) erstmals auftaucht.

"El Contemplador" (Der Betrachter), 1976
Giorgio de Chirico, VEGAP, Barcelona, 2017

"Unglaubliche Einsamkeit"

De Chirico, als Sohn italienischer Eltern 1888 im griechischen Volos (Thessalien) geboren, studierte erst in Athen, später in München an der Akademie der Bildenden Künste. Vor dem Ersten Weltkrieg die Erleuchtung: Er sehe nun anders, erklärte de Chirico später "seine Vision", die er 1910 in Florenz hatte. Verknüpft mit frühen Einflüssen, die ihn zeitlebens prägen sollten, wie die Traumbilder seines Lehrmeisters Max Klinger oder die symbolistische Gedankenwelt Arnold Böcklins.

Friedrich Nietzsches Beschreibungen von menschenleeren Piazze in Turin verinnerlichte de Chirico – insbesondere die dort im Winterlicht spürbare "unglaubliche Einsamkeit". Der Mensch, sofern sichtbar, ist unkenntlich klein. Wirft aber lange, bedrohliche Schatten auf seiner Piazza Metafísica. Überwältigend das Spiel mit unmöglichen Verhältnissen aus Licht und Perspektive, das der junge Weltenbummler bis 1915 in Paris perfektionierte.

In Paris legte de Chirico auch den Grundstein für seine Karriere. Sein frühes Werk war 1911 im Salon d'Automne ausgestellt und von Picasso und Apollinaire rezipiert worden. René Magritte soll in Tränen ausgebrochen sein, als er de Chiricos Liebeslied (1914) erstmals zu Gesicht bekam.

"Visión metafísica de Nueva York" (Metaphysische Vision von New York), 1975
Giorgio de Chirico, VEGAP, Barcelona, 2017

Gesichtslose Puppen

In den Kriegsjahren war de Chirico nicht kampffähig und abseits der Front stationiert. Er zeichnete seine später zum Markenzeichen gewordenen Schneiderpuppen. Gesichtslos wie die Menschen der Zeit, die einem Weltuntergang gleichkam. Eingebettet in skurrile architektonische Szenarien, de Chiricos rätselhafte "metaphysische Innenräume", die wie Schaufenster aussehen. Sein Einfluss wirkte auf sein direktes Umfeld, den Futurismus von Carlo Carrà, mit dem er 1917 die Scuola Metafisica ins Leben rief. Auf Dadaisten und Surrealisten wie den jungen Max Ernst oder Salvador Dalí, und darüber hinaus auf die Neue Sachlichkeit (George Grosz), den Magischen Realismus, die Pop-Art und die Konzeptkunst.

Als Theoretiker und Maler vollzog de Chirico in den frühen 1920er-Jahren eine Kehrtwende. Er suchte Halt bei den alten Meistern, allen voran Raffael und Signorelli, wie er in seiner Schrift Die Rückkehr zum Handwerk (1919) darlegte. Hellenistische Tempelruinen, wiederkehrende Säulenfragmente und die Mythologie finden sich in seinem Versuch einer Restauration, die zum Bruch mit Bretons Surrealisten führt.

In der neometaphysischen Spätphase strotzten seine Traumwelten neuerlich vor enigmatisch-facettenreichem Unsinn: Er setzte in Odysseus Heimkehr (1973) den Irrfahrer als anlandende Statue ins Setting eines Wohnzimmers in Ithaka, mit Tempel, Sofa und Meerblick. Sinnbild für eine seiner Konstanten, den ewigen Konflikt der Innen- mit der äußeren Welt. (Jan Marot aus Madrid, 3.1.2018)