Eisbären sind besonders von der Erwärmung der Arktis betroffen.

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Letztlich muss sich die gesamte Nahrungskette an die Veränderungen anpassen – mit unvorhersehbaren Folgen.

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Wien – Das Video eines verhungernden Eisbären ging kürzlich um die Welt und vielen unter die Haut. Die großen Beutegreifer sind jedoch nicht die einzigen Opfer des schmelzenden Eises. Nirgends auf der Welt schreitet die Erderwärmung so rasch voran wie in der Arktis: Sie erwärmt sich doppelt so schnell wie der globale Durchschnitt. In der Folge verliert das arktische Eis drastisch an Dicke und Ausdehnung. Das ist nicht nur für die emblematischen Eisbären ein Problem – das gesamte Nahrungsnetz der Arktis hängt letztendlich davon ab.

Renate Degen vom Department für Limnologie und Bio-Ozeanografie der Universität Wien hat schon an mehreren Forschungsreisen in die Arktis teilgenommen. Seit zwei Jahren jedoch verbringt sie ihre Zeit fast ausschließlich hinter dem Computer, wenn auch vernetzt mit Arktisforschern aus der ganzen Welt: Mit finanzieller Unterstützung des Wissenschaftsfonds FWF sammelt sie alle Daten, die Forschungsinstitutionen in den USA, Russland, Deutschland, Norwegen und Polen zu Organismen der arktischen Meere erhoben haben, und schmiedet daraus eine spezielle Datenbank.

Es geht dabei um das sogenannte Benthos, das ist die Gesamtheit aller Organismen, die auf dem oder im Boden von Gewässern leben – in der Arktis reicht das von millimetergroßen Fadenwürmern bis zu Schneekrabben mit einer Beinspannweite von knapp einem Meter. Speziell in den relativ flachen Randbereichen, den Schelfmeeren, weist das Benthos eine enorme Vielfalt an Arten mit großen Stückzahlen auf. Sie sind die Basis weitreichender Nahrungsnetze, die bis zum Menschen führen.

Eisalgen als Motor

"In der Arktis sind die Prozesse am Meeresboden sehr eng an jene an der Oberfläche und in der dazwischenliegenden Wassersäule gekoppelt", sagt Renate Degen. Wichtigster Faktor dieser Kopplung ist das jahreszeitliche Geschehen rund ums Eis. Wenn die Sonne nach der Polarnacht wieder kommt, springt sozusagen der Motor des ganzen Systems an: im Eis lebende Kieselalgen namens Eisalgen.

Durch ihre Vermehrung mithilfe des Lichts wird einerseits Kohlenstoff gebunden, andererseits bieten sie Nahrung oder Biomasse für andere Organismen. Im Lauf der Zeit kommt es außerdem zu einer rapiden Vermehrung von Phytoplankton, das gemeinsam mit photosynthetischen Bakterien für eine weitere Zunahme von Biomasse sorgt.

Diese sogenannte Primärproduktion bildet die Nahrungsbasis für im freien Wasser lebendes Zooplankton. Dieses ist am Anfang jedoch noch nicht zahlreich genug, um alle Eisalgen aufzufressen, sodass ein guter Teil davon zu Boden sinkt, wo er den benthischen Organismen als willkommene Energiequelle dient.

Eingespieltes System

"Speziell in den flachen arktischen Schelfbereichen sinken Anfang des Jahres fast 70 Prozent der Eisalgen und des Phytoplanktons zu Boden", betont Degen, "und unterstützen damit die hohe Artenvielfalt und Dichte des Benthos. Dieses ist seinerseits Nahrung für größere Tiere wie Tauchenten, Robben, Walrosse oder Grauwale."

Im arktischen Somme sieht die Sache anders aus: "Da wird der größte Teil des Phytoplanktons direkt von Zooplankton konsumiert", sagt die Biologin, "das Benthos lebt dann vorwiegend von organischen Abfällen wie Kot oder Kadavern von Zooplankton, abgestorbenen Pflanzenteilen und dergleichen."

Dieses perfekt eingespielte System ist mit der Erwärmung und dem daraus resultierenden Rückgang des Eises in Gefahr, auseinanderzudriften. "Durch das jahreszeitlich bedingte Schmelzen und Frieren des Eises kommt es zu einer Schichtung des Wassers", sagt Degen, "wenn das Meerwasser gefriert, wird das Salz aus der entstehenden Kristallstruktur verdrängt. Das schwerere Salzwasser sinkt ab und wird durch nährstoffreiches Tiefenwasser ersetzt. Die Nährstoffe bleiben unter dem Eis gefangen, bis die Algen sie im Frühling verbrauchen. Ohne Eis fehlt dieser frühe Nährstoffpool, die Primärproduktion setzt erst später ein, und das Benthos kriegt letztendlich weniger Nahrung."

Kurze Nahrungsketten

Eine arktische Schlüsselart, die das besonders zu spüren bekommt, ist der Polardorsch – nicht zu verwechseln mit ähnlich lautenden Iglo-Produkt-Namen. Er lebt im Jugendstadium an der Unterseite des Eises, wo er Plankton frisst. Er selbst wird von Raubfischen, Seevögeln und Meeressäugern gefressen, für deren Überleben er enorme Bedeutung hat.

"Die Nahrungsketten in der Arktis sind sehr kurz", betont Degen, "mehr als 70 Prozent der Energie des Zooplanktons gelangen über den Polardorsch direkt an jene, die an der Spitze der Nahrungskette stehen, wie etwa der Eisbär. Wenn sich das Eis nach Norden verschiebt, wandert der Polardorsch mit – mit unvorhersehbaren Konsequenzen für alle, die von ihm leben."

Um die Folgen von solchen und anderen Veränderungen in der Arktis besser abschätzen zu können, trägt Degen in ihrem laufenden FWF-Projekt nicht nur die üblichen Daten wie Vorkommen oder Dichte über das Benthos zusammen, sondern auch alles vorhandene Wissen über dessen Verhalten, wie Lebens- und vor allem Fortpflanzungsweise.

Datenbank im Frühjahr

Zu diesem Zweck arbeitet sie mit Forscherinnen und Forschern auf der ganzen Welt zusammen, besonders intensiv mit Bodil Bluhm von der Arktischen Universität Norwegen. Kommendes Frühjahr soll die aus diesem Wissen erstellte Datenbank online gehen und für jeden zugänglich sein.

In einem zweiten Schritt werden die verschiedenen Daten mittels biologischer Merkmalanalyse (BTA für "biological trait analysis") ausgewertet, einer für das Meer neuen Methode. "Stark vereinfacht werden dabei die Eigenschaften der erfassten Arten in Zahlen verwandelt, die man dazu benutzen kann, das funktionelle Spektrum einer Lebensgemeinschaft zu erfassen beziehungsweise mittels mathematischer Methoden auszuwerten", sagt Degen.

Bessere Vorhersagen

Diese Daten werden mit verschiedenen Umweltparametern abgeglichen. Das Ziel ist, besser Vorhersagen treffen zu können, beispielsweise darüber, welche Gemeinschaften auf Änderungen besonders sensibel reagieren oder wo es Hotspots gibt, die für die Nahrungsketten besonders wichtig sind. "In der Folge können wir etwa die Verlegung geplanter Öl- oder Gasbohrungen empfehlen, wie das jetzt schon in der Barentssee üblich ist."

Die Dringlichkeit von Degens Forschung lässt sich nicht abstreiten: Schätzungen gehen davon aus, dass der Arktische Ozean bis 2040 im Sommer eisfrei sein wird. (Susanne Strnadl, 5.1.2018)