Der Jahreswechsel ist für die politischen Spitzen in den Staaten in der Regel ein willkommener Anlass, ihre Botschaften mit Zukunftsoptimismus zu spicken. Kein Wunder also, wenn Jean-Claude Juncker als Präsident der EU-Kommission – der zentralen Behörde für gemeinschaftliche Politik – zum Aufbruch aufrief.

Zum ersten Mal seit dem Beginn der großen Krise 2008 verzeichneten alle EU-Länder ein Wachstum, schrieb er in der Wirtschaftszeitung Les Echos. In der Union gibt es 235 Millionen Arbeitsplätze, so viele wie noch nie. Den Staaten gelinge es immer besser, ihre Budgetdefizite in den Griff zu bekommen.

Deutschland steuert auf die Vollbeschäftigung zu. In Österreich kann die umstrittene Rechtsregierung unter Kanzler Sebastian Kurz mit üppigen Steuereinnahmen rechnen. Bei drei Prozent Wachstum bis 2020 ließe sich das Land fast auf Autopilot steuern.

Ist 2018 also die Zeit angebrochen, "um am besten bei Schönwetter das gemeinsame Dach auszubessern", wie Juncker schrieb, und seinen umfangreichen EU-Reformplan umzusetzen? "Ja", muss die Antwort lauten, wenn man den Blick nur auf die makroökonomische Entwicklung richtet.

Die angestrebten Reformziele klingen auch alle sehr positiv: Ausbau der Demokratie in der Union, Vereinfachung der Entscheidungen, mehr Sicherheit nach außen und im Inneren, bessere Lastenverteilung in der Migrationspolitik, Schritte hin zur gemeinsamen Sozialpolitik.

Jedoch: So sehr wirtschaftlich ein Wendejahr im positiven Sinn bevorsteht, umso weniger gilt das politisch. Ein Paradoxon: Die EU-Staaten beginnen 2018 so "unvereinigt" wie selten. Der Union bläst der Wind des nationalen Egoismus, der tendenziellen illiberalen Abwendung von Brüssel, ins Gesicht. Dieser Vorgang der inneren Destabilisierung wuchs schleichend mit der Euro- und Migrationskrise 2015.

Nach dem Referendum über den EU-Austritt in Großbritannien begannen die Turbulenzen dann erst so richtig – allen Einheitsappellen der EU-27 zum Trotz. Die Wahl des Rechtspopulisten Donald Trump zum US-Präsidenten verstärkte dies von außen kräftig.

Vorläufiger Höhepunkt der EU-Verunsicherung: die Einleitung eines Stimmrechtsentzugsverfahrens gegen Polen, weil die Regierung in Warschau systematisch das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit verletze. 2018 wird also für die EU so oder so auch politisch ein Wendejahr. Erstmals in der Geschichte der Union wird es zum Abschluss eines Austrittsvertrags (mit London) kommen. Bisher gab es nur Beitritte.

Ein Bruch mit Polen wäre fatal. Belastet wird die Lage durch den Umstand, dass der traditionelle "Motor" der Gemeinschaft – das Duo Deutschland und Frankreich – mangels einer Regierung in Berlin derzeit abgestellt ist. Ohne diese beiden Länder kann es aber keine weitreichenden Entscheidungen geben, obwohl eine neue Balance zwischen den EU-Institutionen und ihren Mitgliedstaaten nach dem Abschied der Briten überlebenswichtig werden wird.

Und Österreich? Das kleine Land rückt durch die Übernahme des EU-Vorsitzes ab Juli ins Zentrum des Geschehens, ausgerechnet mit einer ÖVP-FPÖ-Regierung, deren kleiner Partner traditionell EU-skeptisch bis ablehnend agierte. Auch dabei könnte es manche "Wende" im Kleinen geben. Dass Kanzler Kurz vom französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron nach Paris eingeladen wurde, ist ein wichtiges Signal dafür, dass "proeuropäischer Kurs" keine Floskel bleibt. (Thomas Mayer, 2.1.2018)