Ein rarer Augenblick der Innigkeit im Wiener Schauspielhaus: Klytaimnestra (Sebastian Schindegger) und Ägisth (Vassilissa Reznikoff) regieren gemeinsam Mykene.


Foto: Matthias Heschl

Wien – Das Geschlecht der Atriden macht endlich Schluss mit Blutschuld und innerfamiliärem Hass. In Mykene, diesem finsteren Schauplatz des Gattenmordes an Agamemnon, herrschen denkbar entspannte Verhältnisse. Klytaimnestra und ihr Liebhaber Ägisth lenken die Geschicke ihres antiken Staates von einem Urlaubsresort aus. Ihr Palast steht, mit kümmerlichen Palmwedeln versehen, im Wiener Schauspielhaus (Ausstattung: Patricia Ghijsens). Dort werden seit Jahreswechsel die mythischen Gewaltverhältnisse ordentlich abgerüstet. Elektra – Was ist das für 1 Morgen? heißt eine "elektronische Kammeroper", die Jacob Suske (Regie und Musik) und Ann Cotten (Libretto) gemeinsam ersonnen haben.

Apollinische Klarheit durchströmt das heitere Machwerk. Oben an der Fensteröffnung, wo man erwarten würde, Klytaimnestras Haupt aus schlechten Träumen erwachen zu sehen, deklamiert eine "DJane" namens Mirella Kassowitz die betrübliche Herkunftsgeschichte Ägisths. Dieser wird von einer Frau (Vassilissa Reznikoff) gemimt. Ägisth trägt einen Backenbart wie der Reeder der Onedin-Linie (TV-Serie der 1970er). Er gießt sich gerne Branntwein hinter die Binde und knuspert mit der Königin (Sebastian Schindegger) Toast zum Frühstück.

Abgezogen ist aus Mykene der Blutdampf, die permanente Androhung des Verhängnisses. Stattdessen wird man Zeuge politisch segensreicher Zustände. Klytaimnestra und ihr Kerl haben miteinander eine liberal-konservative Koalition geschlossen. Ägisths Credo wird durchs Mikro verlautbart: "Utopien mache ich wie ein Bäcker Brot."

Die Rede ist dann doch eher von TöpferInnen, die fein dekoriertes Exportgut herstellen, während andere ihre Arbeitskraft für das Gemeinwohl abtreten. Cottens absurder Text häckselt Wirtschaftstheorien klein und mengt sie dem Mythenstoff unter. Elektra (Sophia Löffler) sieht wie eine junge, schöne Kolchosbäuerin aus. Sie schneidet als verwitwete Landwirtin Erdäpfel, erhält jedoch Besuch von Bruder Orest (Jesse Inman), der als Patentanwalt und Agrartechniker in den USA multiple Karriere gemacht hat.

Ausgerechnet beim Genuss von Zichorienkaffee enthüllen die beiden erwachsenen Kinder einander ihre Identität. Die schauerliche Musik zieht als Rezitativ vorüber, als eine albtraumartige Erinnerung an Fad Gadget und die Off-Elektroniker der 1980er.

Aus der Blutrache wird nichts. Die Alten ernennen Orest, den Ami mit dem Musterkoffer, zum Agrarminister, weil er die Hühnerzucht auf wissenschaftliche Basis stellen möchte. In Mykene hat buchstäblich jede Schnapsidee Platz. Man sehnt sich heftig nach einem zünftigen Massaker, nach einer geschwungenen Axt, nach dem Ende dieses fruchtlosen Palavers. So gesehen befördert diese erstaunlich misslungene Produktion die finstersten Regungen im Menschen. (Ronald Pohl, 3.1.2018)