Heuer wird im großen Stil der 100. Jahrestag der Gründung der Republik begangen. Grund zum Feiern? War jener Tag der Anfang der österreichischen Demokratie, festgehalten in der berühmten Zeile aus der Verfassung: "Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volke aus"? Oder war er das Ende des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn? Befreiung oder Tragödie? Die Zeitgenossen erlebten ihn durchaus unterschiedlich.

Befreit fühlten sich vor allem die Bewohner der Nachfolgestaaten, die sich nun endlich vom "Völkerkerker" der Habsburgermonarchie erlöst sahen und ihre langersehnte Unabhängigkeit verwirklichen konnten. Enttäuscht waren vor allem die Deutschsprachigen in jenen Ländern. Deutschböhmen, Galizianer und Gottscheer fanden sich plötzlich als Angehörige einer Minderheit in Nationalstaaten wieder. Gestern noch Österreicher, heute tschechoslowakischer, polnischer, jugoslawischer Staatsbürger. Ich habe mein Vaterland verloren, sagte Joseph Roth, Autor von "Radetzkymarsch", geboren in Brody in Galizien. Er war nicht der Einzige, der so dachte.

Und die Kernösterreicher? War die junge Republik Österreich, vom französischen Ministerpräsidenten Clemenceau als "der Rest" bezeichnet, jetzt auch ein Nationalstaat? Oder war sie, wie der Autor Hellmut Andics titelte "der Staat, den keiner wollte"? Die Frage, ob es eine österreichische Nation gibt oder nicht, hat das Land bis in die Achtzigerjahre des letzten Jahrhunderts beschäftigt und gespalten.

Aber wir gedenken heuer auch des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich im Jahre 1938. Für die einen der Beginn der Naziherrschaft mit all ihren Schrecken, für die anderen die ersehnte Heimkehr der Deutschösterreicher nach Großdeutschland. Für das weitgehend evangelisch geprägte sogenannte dritte Lager in Österreich waren der Deutschnationalismus wie der Antiklerikalismus lange vor Hitler prägende Elemente. Heute haben seine Anhänger in der FPÖ auf beides verzichtet und durch provinziellen Österreich-Chauvinismus und pseudochristliche Moslem-Feindschaft ersetzt.

Man sieht schon: Dieses Gedenkjahr ist nicht ohne Ambivalenzen. Wir dürfen gespannt sein, ob bei Veranstaltungen nur pflichtgemäß über das Scheitern der Ersten und die Erfolgsgeschichte der Zweiten Republik gesprochen werden wird oder ob auch die heiklen, aber interessanten Themen zur Sprache kommen werden. Begnügen wir uns mit einem Rückblick auf die Epoche nach 1918 oder 1848? Oder reden wir auch über das, was vorher war? Ist die Geschichte des Habsburgerreiches überhaupt "unsere" Geschichte? Oder überlassen wir diesen Teil den Fremdenverkehrsmanagern und Sisi-Nostalgikern? Werden die Bewohner der Nachbarstaaten, die einst Landsleute waren, in den Reigen des Gedenkens miteinbezogen? Mitteleuropa, sagte jüngst ironisch Karl Schwarzenberg, ist heute auf neue Weise wieder vereint: Überall gibt es populistische Regierungen.

Gut, dass Heinz Fischer der Koordinator des Gedenkjahres 2018 ist. Er ist der Richtige, um die vielfältigen Geschichtsstränge zusammenzuführen und dabei auch die Zukunft im Blick zu behalten. (Barbara Coudenhove-Kalergi, 3.1.2018)