Dragan Velikic, "Jeder muss doch irgendwo sein". Übersetzt von Macha Dabic. € 24,70 / 302 Seiten. Hanser, Berlin 2017

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Mutterbücher scheinen in der Literatur von Männern seltener zu sein als Vaterbücher. In Österreich zumindest gab es eine Zeitlang eine veritable Landplage von Letzteren, aber es gab auch Peter Handkes Wunschloses Unglück, das den Ton für weitere Söhne setzte. Nicht ganz unähnlich geht es bei einem alten Bekannten Handkes zu, wenngleich weniger drastisch: Auch bei Dragan Velikic (geb. 1953) soll ein autobiografischer Roman dem Leben der Mutter, eines jener "ungewöhnlichen kleinen Menschen", die noch zu viel Anstand für ihr brutales Zeitalter hatten, nachträglich Gewicht und Bedeutung verleihen – und dahinter das eigene Schriftstellerwerden schildern.

Jeder muss doch irgendwo sein erzählt also (unter anderem) vom Aufenthalt von Velikics Mutter (und seines Vaters) im istrischen Pula und damit die Geschichte seiner jugoslawischen Kindheit. Diese Mutter kommt einem merkwürdig vertraut vor, wie ein Archetyp einer ganzen Generation von Frauen, der unabhängig vom Gesellschaftssystem zu sein scheint: etwa wenn sich die Frau Mama im Jugoslawienkrieg der 1990er-Jahre Sorgen macht, ob zumindest Teile des Familienporzellans im längst verlorenen Zuhause heil geblieben sein könnten. Oder wenn die "geborene Enzyklopädistin" immer wieder den Schriftstellersohn kritisiert und selbst unermüdlich Listen schreibt, vor allem aber eine "Familienchronologie aller Hotelaufenthalte" – ein verlorenes Gründungsdokument, das der Erzähler nie mehr ganz rekonstruieren kann: "Ich saß am Schreibtisch, wie eingeschnürt in der Anstrengung, die Motive und Wurzeln dieser ganzen Geschichte zu greifen, ohne in Sackgassen zu landen, ohne mich mit überflüssigen Worten zu beladen und ohne mich vor den Erkenntnissen zu fürchten."

Dieses Vorhaben funktioniert nicht wirklich so, wie es dem autobiografischen Ich vorschwebt, bevor es im zweiten Teil des Buches zum Er wird. Denn in die Spurensuche nach dem Leben eines militanten Hausverstandes sind auch andere Orte wie Budapest und Thessaloniki eingeschrieben. Zusammen mit anderen Geschichten, etwa jener der illustren Nachbarin Lisetta, die während der Besatzungszeit Pulas von Männern in und ohne Uniform förmlich umlagert war.

Politische Leidensgeschichte

Der Roman wird dadurch viel mehr als eine berührende Hommage an die eigene Mama im zweiten und letzten Jugoslawien. Unterschwellig steht nämlich auch die wechselhafte Leidensgeschichte dieses zerfallenen, fragwürdigen Vaterlands im Zentrum und findet in Istrien ihren Brennpunkt: jener multikulturellen Halbinsel, die im Zweiten Weltkrieg und danach zum Spielball zwischen Italien und Tito wurde. Velikic zeigt dies am Beispiel der von Mussolini aus dem Boden gestampften Bergbauplanstadt Rasa (Arsia) oder anhand der deutschen Familie Hütterott, die Inseln vor Rovinj besitzt und dort den Tourismus aufbaut, bevor sie zur Gänze 1945 ohne Gerichtsurteil von Partisanen ermordet wird.

Jeder muss doch irgendwo sein wird damit, wie der Ich-Erzähler zugibt, zum "Versuch, anhand meiner im Gedächtnis archivierten Eindrücke eine ganze Epoche zu entziffern". Zwischen den Erinnerungsfetzen stehen außerdem noch Notate, was denn Literatur sein könnte: "Man muss den Bildern erlauben, ihre Beichte abzulegen", heißt es dann. Und: "Ich wollte nichts mehr erfinden, nur noch finden." Nicht zuletzt wohl die eigene Identität, falls man so etwas überhaupt besitzen kann.

Und überhaupt Dragan Velikic: Erst wichtiger Journalist und Dissident in der Milosevic-Ära, dann Exilant und Autor, aber von 2005 bis 2009 auch Botschafter Restjugoslawiens in Österreich, ist er nicht erst mit dem vorliegenden Roman wahrscheinlich der mitteleuropäischste, skeptischste unter allen serbischen Schriftstellern. Wie in Velikics anderen, preisgekrönten Romanen kann man auch in seinem Neuling einfach die Generalthemen des ewigen Suchers wiederfinden: Familie und Gedächtnis, Melancholie (ohne viel Jugo-Nostalgie), die Obsession mit Fotografien und anderen Alltagsdokumenten, aber auch Hotels – Orte, die jene "versetzten Zwischenräume" abgeben, in denen Schreiben als Hilfskonstruktion des Geschehenen möglich ist.

Die einen mögen dies als sentimentalen und postmodernen Erinnerungskitsch abtun. Den anderen gibt Jeder muss doch irgendwo sein mit ein wenig Muße die Verheißung des Erzählens: "Zum Schluss würde eine Geschichte herauskommen, die nicht erfunden war, eine Geschichte, die Mama mit Vergnügen gelesen hätte." Das steht tatsächlich zu hoffen, schon aus reiner Sohnessolidarität heraus – auch wenn die große Geschichte solchen Geschichten häufig einen Strich durch die Rechnung macht. (Clemens Ruthner, Album, 5.1.2018)