Proteste fanden vergangene Woche auch an der Universität in Teheran statt.

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Weltbild nicht nur vom Islam geformt: Ayatollah Ali Khamenei.

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Der österreichische Iranist Walter Posch erklärt die Dichotomie im Iran als "bürgerlich-islamischer Rechtsstaat" versus "permanente islamistische Revolution".

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Und da ist es wieder, in zahlreichen Kommentaren, das komplementäre Begriffspaar "Reformer" und "Konservative", das einem helfen soll, die heutige Islamische Republik Iran und auch die aktuelle Protestwelle zu verstehen. Präsident Hassan Rohani ist der Reformer, der oberste religiöse Führer Ali Khamenei – der im Gegensatz zu Rohani keine Amtszeitbeschränkung hat – ist der Konservative, und rechts von ihm sind die Hardliner, die Rohani das Leben schwermachen.

Das stimmt schon so – und auch wieder nicht. Für den österreichischen Iranisten Walter Posch ist die Dichotomie besser als "bürgerlich-islamischer Rechtsstaat" – das ist es, was Rohani will – versus "permanente islamistische Revolution" erklärt. Ja, repliziert der Doyen der europäischen Iranistik, Bert Fragner, in einer Konversation, in die auch DER STANDARD eingebunden ist, aber: "Allerdings glaube ich nicht so ohne weiteres an die Vorstellung, die permanenten Revolutionierer seien tatsächlich Vertreter einer kohärent formulierten ideologischen Linie. Sie tun eher notdürftig so, um sich ihre aus Machtbesitz und Korruptionsgewebe geflochtenen Positionen zu bewahren."

Aber im Auge des derzeitigen Sturms stehen sie mittlerweile alle, auch wenn, wie Posch annimmt, die Hardliner in Mashhad die Proteste anfangs gegen ihren Lieblingsfeind Rohani losgetreten haben. Das ging ja bekanntlich nach hinten los, bald fielen die ersten Khamenei-Porträts. Und die Reformbewegung – die sich auch von Rohani stets mehr Bewegung gewünscht hat – springt auch nicht auf die Proteste auf, sondern zeigt angemessenes Verständnis für die soziale Unzufriedenheit. Und distanziert sich.

"Die Vergessenen"

Es ist also etwas Neues: Die Parallelen zu 2009, als gegen die Wahlfälschung protestiert wurde, die Präsident Mahmud Ahmadi-Nejad eine zweite Amtszeit verschafft hatte, bestehen nicht. Die "Grüne Bewegung" von damals ist heute nicht sichtbar. Esfandyar Batmanghelidj schreibt in seinem Blog auf "Lobelog" von den "vergessenen Frauen und Männern", die nun in Erscheinung treten. Unscharf gesagt die "Arbeiterklasse" – und dass es ihr schlechter geht denn je, versuchten die Rohani-Gegner aufzugreifen.

Viele der Fehlentwicklungen, wie die Explosion der Korruption, begannen schon unter Ahmadi-Nejad, erinnert der italienische Nahostexperte Nicola Pedde in der "Huffington Post", aber ihre Folgen kommen jetzt zum Tragen: wie etwa das Versagen der Baubehörden in den vom jüngsten Erdbeben betroffenen Gebiete oder die unseriösen Anlagengeschäfte der Banken, bei deren Zusammenbruch viele kleine Sparer ihr Geld verloren, und anderes mehr.

Die Wut entlädt sich auf den Straßen. Auch Bert Fragner sieht nicht den "Ruf nach Freiheit" als Grund für die gegenwärtigen Proteste, sondern "die landesweite Anprangerung des Versagens der Systemträger": Die "Verknüpfung von Korruption, organisiertem Unterschleif und politischer Zuordnung desselben zu den Sicherheits- und Parallelorganen", die Walter Posch in seinem Gastkommentar im STANDARD als "Hezbollahis" zusammenfasste, sei zu einem systemischen Problem geworden. "Bis in die höchsten Kreise wissen sie bis ins tiefste Innere, dass die Korruption ganzer definierter Gruppen und Schichten die Stabilität der Islamischen Republik bedroht. Nur sind nicht wenige dieser Einsichtsträger gleichzeitig auch irgendwie Nutznießer des Schlamassels, und das macht die Geschichte schwierig", so Fragner.

Und wo steht der Mann, dessen Porträt stellvertretend für das System nun von den Demonstranten und Demonstrantinnen in etlichen iranischen Städten gestürzt wurde? Ali Khamenei, der 1989, also vor 29 Jahren, Revolutionsführer Ruhollah Khomeini nachfolgte, ist zwar mit 78 Jahren nicht einmal so alt, aber ein kranker Mann. Über seiner jahrelangen Politik des Interessenausgleichs zwischen den unterschiedlichen Gruppen an den Trögen der Macht der Islamischen Republik hat auch er die kleinen Leute aus den Augen verloren.

Jener Präsident, bei dem er sie gut aufgehoben glaubte – der populistische Polyesterjackenträger Ahmadi-Nejad –, hat die Gaunereien, die letztlich die Kleinen bezahlen, angezogen wie keiner. Genau einen Tag vor Ausbruch der aktuellen Proteste prangerte Khamenei den früheren Präsidenten an: Diese Leute sollten nicht Opposition spielen, sagte er, sondern zur Verantwortung gezogen werden.

Victor Hugo, John Steinbeck

Der von außen meist simpel als islamischer Zelot gesehene Khamenei hat aber auch selbst eine "linke" Vergangenheit: Er wurde als Revolutionär stark von der Auseinandersetzung zwischen dem kapitalistischen Westen und der "Dritten Welt" geformt. Der iranische Dissident Akbar Ganji zählt in einem Artikel in "Foreign Affairs" 2013 Lieblingsbücher Khameneis auf, die belegen, dass dieser nicht nur vom Islam geformt wurde: Victor Hugos "Les Misérables" ebenso wie John Steinbecks "The Grapes of Wrath" ("Früchte des Zorns"). Die Revolution 1979 war eben nicht nur eine "islamische" – und mit den anderen hat sie unter anderem gemeinsam, dass sie ihre Versprechen nicht einlösen konnte. (Gudrun Harrer, 5.1.2018)