Reinhold Messner sagt, er hatte die Gnade der frühen Geburt. "Ich konnte mich durch meine Tätigkeit ausdrücken."

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STANDARD: Es gibt Menschen, die ohne Fallschirm aus einem Flugzeug springen und etwas später in einem anderen Flugzeug landen. Was halten Sie von solchen oder ähnlichen Aktionen?

Messner: Das ist genial. Ich habe Respekt vor Leuten, die so etwas können. Ich nenne es Kicksport, eine absolute Adrenalinangelegenheit. Aber das ist nicht meine Welt. Mir ist das wirklich fremd.

STANDARD: Gehen Extremsportler in Ihren Augen als Abenteurer durch?

Messner: Unter Abenteuer verstehe ich etwas anderes als Kicksport. Der ursprüngliche Alpinismus ist auch eine kulturelle und keine sportliche Erscheinung. Da geht es um die Auseinandersetzung der menschlichen Natur mit der Wildnis, also mit einer unberührten Natur. Das ist meine Welt. Die meisten Kletterer heutzutage sind in Hallen anzutreffen, die haben nie einen Felsen angegriffen. Ihre Kletterkünste sind großartig, aber mit Alpinismus hat das nichts zu tun. Kicksport ist für mich eigentlich auch gar kein Sport, so wie Autorennfahren für mich kein Sport ist.

STANDARD: Ist es moralisch vertretbar, dass sich Menschen enormen Gefahren aussetzen, weil sie immer mehr Risiko eingehen müssen, wenn sie auffallen wollen?

Messner: Ob einer mit 20 oder mit 90 stirbt, ist zunächst seine Angelegenheit. Aber den eigenen Leuten, der Familie, der Mutter gegenüber ist es niemals zu rechtfertigen, das Leben aufs Spiel zu setzen. Da beurteile ich durchaus auch mein eigenes Tun. Von den absoluten Extrembergsteigern überleben schließlich nur fünfzig Prozent. Das heißt aber nicht, dass Todessehnsucht im Spiel wäre. Todessehnsucht hatte ich nie, Todessehnsucht hat auch keiner, der mit einem Wingsuit aus einem Flugzeug springt.

STANDARD: Wie egozentrisch muss man sein, um die eigene Mutter auszublenden?

Messner: Natürlich extrem egozentrisch. Man muss eine einzige Frage über alles andere stellen. Ist das, was ich vorhabe, möglich oder unmöglich? So hat sich die Menschheit entwickelt. Natürlich nicht im Extremsport, sondern vor allem in der Wissenschaft.

STANDARD: Für Sie war es, mit Verlaub, vergleichsweise einfach, Pionierstatus zu erlangen. Abenteurer heutzutage fallen kaum noch auf, weil alles schon da gewesen, die Konkurrenz viel größer und die mediale Situation eine andere ist.

Messner: Ich hatte die Gnade der frühen, aber nicht zu frühen Geburt. Hermann Buhl, der zwanzig Jahre älter war als ich, war der beste Bergsteiger der Welt. Aber er konnte in seinem Leben nur zwei Expeditionen machen, mehr war wirtschaftlich kaum drinnen. Ich konnte mehr als hundert Expeditionen machen, ich konnte das finanzieren, die Welt stand uns offen. Ich konnte mich durch meine Tätigkeit ausdrücken.

STANDARD: Die 14 Achttausender stehen zwar noch da, sind aber sozusagen irgendwie auch wieder weg. Gibt es in unserer Zeit keine Abenteuer mehr?

Messner: Es gibt genügend Herausforderungen. Es gibt ganz viele Berge mit vielen Routen, die längst nicht ausgeschöpft sind. Aber fast alle Menschen gehen nur auf Berge, die einen Namen haben. Und junge, hervorragende Bergsteiger, die anderswo gehen, kommen kaum vor. Hansjörg Auer aus dem Ötztal ist einer der besten Bergsteiger weltweit. Kaum einer kennt ihn, das ist ungerecht.

STANDARD: So gesehen wird einer, der auffallen und seinen Sponsor zufriedenstellen will, bald wie ein Flummi von einem Flugzeug in einen Hubschrauber und dann vom Hubschrauber wieder zurück ins Flugzeug springen müssen.

Messner: Es ist jedenfalls verständlich, dass junge Menschen ihre Möglichkeiten ausloten.

STANDARD: Sie haben sich immer wieder mit Sisyphos verglichen. Das würde einem Kicksportler wahrscheinlich nicht in den Sinn kommen.

Messner: Die Leute heute brauchen keine historische Anlehnung. Ich habe vor allem an Camus gedacht, weil es natürlich absurd ist, was wir tun. Aber Camus hat einen wie Sisyphos auch als Glücklichen angesehen, weil der ja wenigstens etwas zu tun hatte. Man muss auch sagen, dass dem Sisyphos beispielsweise eine Alleinerzieherin von zwei Kindern, die an der Supermarktkassa sitzt, die also richtig malocht, viel näher ist als jemand, der von Flugzeug zu Flugzeug springt oder auf den Everest steigt.

STANDARD: Wäre einer, der sein angepeiltes Flugzeug verfehlt und zu Tode kommt, in Ihren Augen zu bedauern?

Messner: Große Schmerzen leide ich nicht, wenn einer so umkommt.

STANDARD: Es gibt Firmen, die Extremsportlern relativ viel Geld dafür bezahlen, dass diese ihr Leben riskieren. Verwerflich oder marktorientiert?

Messner: Da leben die Kicksportler von einer Marke, und die Marke lebt von den Kicksportlern. Sobald etwas gefilmt wird, wird es für mich prinzipiell problematisch, weil es meistens nicht mehr authentisch ist. Ich bin froh, dass immer noch viele Menschen bereit sind, 35 Euro für einen meiner Vorträge zu zahlen. Mich kann man nicht anklicken. (Fritz Neumann, 5.1.2018)