Mit "Gesellschaft als Urteil" tritt Didier Eribon mit seiner eigenen Herkunft in ein produktiveres Verhältnis. Das Ideal der Aufklärung wird aber von ihm nicht über Bord geworfen.

Foto: Robert Newald

Wien – Wenn ein französischer Intellektueller Rückschau auf die eigene Herkunft hält, hat das normalerweise nicht das Zeug zu einem Bestseller. Mit Rückkehr nach Reims, Didier Eribons 2016 auf Deutsch veröffentlichtem Buch über die soziale und sexuelle Scham, der er sich offen zu stellen wagte, verhielt es sich anders.

Die Selbstanalyse wurde zu einem Buch der Stunde. Und zwar nicht nur der Aufrichtigkeit seines Kampfes halber, sondern vor allem deshalb, weil es eine kluge Erklärung dafür bot, warum große Teile der Arbeiterschicht den Klassenkampf aufgegeben haben und mittlerweile nach rechts abgedriftet sind. Selbst ganze Theaterabende wurden schließlich auf Grundlage von Rückkehr nach Reims ausgerichtet.

Mit Gesellschaft als Urteil (Edition Suhrkamp) ist nun eine Studie Eribons erschienen, die Kommentar und Weiterentwicklung des Erfolgsbuchs zugleich ist. Ein Metabuch, das einerseits die Falten durchleuchtet, die er beim Schreiben über seine intellektuelle Emanzipation bewusst in Kauf genommen hat. Andererseits geht es dem Soziologen aber auch um einen Versuch der Verallgemeinerung seines Projekts über "Klassenflüchtige" und deren "Odysseen der Wiederaneignung". Der Begriff stammt von Pierre Bourdieu, einem der wichtigsten Lehrmeister Eribons. Er beschreibt die Anstrengungen und Umwege, die es braucht, um sich seiner Herkunftskultur wieder anzunähern.

Eribon wirft Bourdieu vor, seine eigene Kindheit in seiner Habitusforschung vernachlässigt zu haben. Um nicht zu verklären, müsse man nämlich stets auch die Selbstidentifikation hinterfragen: Eribon will darauf hinaus, dass einen die Scham über die Herkunft oder das sexuelle Außenseitertum auch nach dem sozialen Aufstieg nicht loslässt. Erfolgt die Abkehr aus der Arbeiterklasse als Bruch, ist die Rückaneignung nur in Form einer analytischen Tätigkeit möglich. Ziel ist es, die verlassene Welt (bei Eribon das Arbeitermilieu seiner Eltern) besser zu verstehen, um der sozialen Scham direkter, man könnte sagen: politischer zu begegnen.

Der feine Unterschied

Schon an diesen Grundfragen kann man sehen, dass Gesellschaft als Urteil auf einen "ontologischeren" Befund als sein Vorgänger hinausläuft. Das macht Eribons mäandernde Überlegungen allerdings nicht weniger lesenswert. Es ist ein Buch über die feinen Unterschiede, die der 64-Jährige auch bei jenen Denkern herausarbeitet, die ihn geprägt haben: Neben Bourdieu ist das Michel Foucault, der bei der Konfrontation mit der sexuellen Scham behilflich war. Als Homosexueller hat Eribon stets auch diesen Teil seiner Identität fest im Blick. Doch auch Sartre und Simone de Beauvoir gehören in seine "Sentimenthek", Autoren, deren Großzügigkeit im Denken er schätzt. Oder jene, in denen er Komplizen findet: Jean Genet oder die im Deutschen gerade erst wiederentdeckte Schriftstellerin Annie Ernaux.

An den Werken zweifeln

Mit Ernaux kommt Eribon auch zu einem der spannendsten Punkte des Buches. Er fragt sich, um welchen Preis die Aufnahme in das ersehnte Reich der legitimen Kultur erkauft ist. Als Gelehrter würde er nie an den Werken selbst zweifeln, die ihm dazu verholfen haben, eine Sprache gegen die Unterdrückung und damit Solidarität zu entdecken.

Doch als linker Soziologe erkennt er die Normen der "intellektuellen Zirkel" und die Logik, mit der weiterhin Hürden reproduziert werden, um Eliten kleinzuhalten, zu festigen. Der Konformitätsdruck ist letztlich dafür verantwortlich, dass die soziale Herkunft verschwiegen wird. Den Außenseitern fehlt das Selbstbewusstsein, um auf ihrer Geschichte zu bestehen.

Auch Ernaux' Versuch, den Einfluss ihrer Mutter, der sie das Studium verdankte, mit jenem der bürgerlichen Feministin de Beauvoir zu verknüpfen überzeugt Eribon mehr schlecht als recht. Am Beispiel seiner eigenen Großmutter, die sich einem traditionellen Frauenbild verweigert hat, führt er vor, warum dieser als Arbeiterin kein Glück beschieden war.

Eigene Herkunft

Es nimmt einen für Eribon ein, dass er einen Weg sucht, mit der eigenen Herkunft in ein produktiveres Verhältnis zu treten, ohne das aufklärerische Ideal der Befreiung über Bord zu werfen. Die Romantisierung der Arbeiterklasse ist jedenfalls kein Weg. Eribon versucht, die Scham selbst als Motor der Demokratisierung zu bewerten: als eine Form der verkörperten Unterwerfung, die gegen jedes gesellschaftliche Urteil stets aufs Neue Widerstand generiert. (Dominik Kamalzadeh, 6.1.2018)